Streit um Unabhängigkeit Sami A. und die Waage der Justitia

Berlin · Politik und Gerichte ticken unterschiedlich. Im Streit um den Tunesier führt das nun zu einer hitzigen Debatte um die Unabhängigkeit der Justiz. Denn im Hintergrund geht es um ein Reizthema.

.

.

Foto: SZ

Es sind selten deutliche Worte. „Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet“, sagt Nordrhein-Westfalens oberste Richterin Ricarda Brandts. Um die Abschiebung des islamistischen Gefährders Sami A. nach Tunesien Mitte Juli zu ermöglichen, hätten Politik und Behörden bewusst Informationen zurückgehalten. Der Innenminister des Landes, Herbert Reul, keilt in die andere Richtung. „Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“, rät der CDU-Politiker in der „Rheinischen Post“. „Wenn die Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen.“

Und in der Tat, die Entscheidung löst Empörung aus. Ein Mann, dem die Sicherheitsbehörden schlimmste extremistische Straftaten zutrauen, muss nach Deutschland zurückgeholt werden. Ein regelrechter „Shitstorm“ in den sozialen Medien und auch per Post sei über das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hereingebrochen, das die Stadt Bochum verpflichtet hat, Sami A. zurückzuholen, berichtet Richterin Brandts. Diese Entscheidung hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster inzwischen bestätigt.

„Teilen der Justiz sind offenbar alle Maßstäbe verlorengegangen“, wettert die AfD-Fraktionschefin im Bundestag, Alice Weidel, nun. Doch wenn Gerichte nach vermeintlicher Stimmungslage entschieden und nicht nach Recht und Gesetz – wozu bräuchte es sie dann noch?

Brandts ist nicht die erste hochrangige Juristin, die sich öffentlich zu Wort meldet. Die Wortwahl der Politik treibt die Judikative um. „In einer Phase, in der Probleme gelöst werden sollen, möchte man sich nicht mit der Analyse schwieriger Rechtsfragen aufhalten. Da drängt es zur Tat. Und wenn es nicht schnell genug vorangeht, dann entsteht Verdruss“, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, Ende Juli der „Süddeutschen Zeitung“. Auch der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, berichtet: „Ich habe den Eindruck, dass die Politik sich so unter Handlungsdruck fühlt, dass sie sich durch die Gerichte behindert fühlt.“ Das sei aber ein grundlegendes Missverständnis der Gewaltenteilung, wonach Regierung und Behörden (Exekutive) getrennt sind von Legislative (Parlamenten) und Judikative (Justiz).

„Die Gerichte entscheiden nach Recht und Gesetz. Und die Politik spricht durch Gesetze“, betont Schellenberg. Das bedeute, dass die Politik sich nicht mit der Justiz auseinandersetzen müsse, sondern sie müsse Gesetze machen, die dann Grundlage für die unabhängige Justiz seien. „Und diesen Weg scheint man an manchen Stellen abkürzen zu wollen. Das ist eine durchaus eine Tendenz, die einem Sorgen machen muss.“

Dass das so ist, liege an der erhitzten Debatte über Zuwanderung, meint Schellenberg. „Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass die Frage der Migration die gesamte Gesellschaft in weiten Teilen sehr stark emotionalisiert und auch gespalten hat. Diesen Druck erlebt die Politik als unmittelbare Handlungsaufforderung.“

Das „Rechtsempfinden der Bevölkerung“ dürfe kein Kriterium für Gerichte sein, sagt die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven von der Universität Köln. „Gerichte sind an Gesetze gebunden. In einer parlamentarischen Demokratie sollten die Gesetze ja Ausdruck dessen sein, was das Volk und seine Repräsentanten für richtig halten“, sagt sie.

Doch das Strafgesetzbuch hält ein kleines Hintertürchen offen. Bei Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten wird keine Bewährung gewährt, „wenn die Verteidigung der Rechtsordnung“ das gebietet. Die nutzte der Bundesgerichtshof (BGH) 2017, als er Nachbesserungen bei einem Urteil des Kölner Landgerichts forderte, das zwei Raser nach einem illegalen Rennen, bei dem eine Frau starb, zu Bewährungsstrafen verurteilt hatte. Bei der Entscheidung habe das Gericht das „allgemeine Rechtsempfinden und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts“ nicht ausreichend berücksichtigt, argumentierte der BGH. Im März schickte das Landgericht die Männer dann hinter Gitter.

Auf Asylklagen sei das aber nicht anwendbar, sagt Rechtsexpertin Hoven: „Das ist ein ganz spezieller Punkt im Strafrecht, der für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht gilt und nicht übertragbar ist.“ Und die Juristen streiten sich: „Es ist im Strafrecht wissenschaftlich umstritten, inwieweit bei der Strafzumessung und der Bewährungsaussetzung auf die Wirkung eines Urteils geschaut werden darf“, sagt Hoven.

 Ricarda Brandts, Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts in NRW, rügt dagegen Behörden und Politik.

Ricarda Brandts, Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts in NRW, rügt dagegen Behörden und Politik.

Foto: dpa/Bernd Thissen
 Herbert Reul (CDU), Innenminister von NRW, rügt Gerichtsentscheidungen im Fall Sami A.

Herbert Reul (CDU), Innenminister von NRW, rügt Gerichtsentscheidungen im Fall Sami A.

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Eine gewisse Hemdsärmeligkeit im Umgang mit der Justiz mag Juristen empören, im Wahlkampf scheint sie mancherorts gesetzt. „Ich bin froh, dass der mutmaßliche Leibwächter von bin Laden außer Landes ist“, sagt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei einer Bierzeltrede Anfang August, als der Streit um Sami A. noch in vollem Gange ist. Seehofer spricht gerne vom Rechtsstaat, der klare Kante zeigen müsse gegen Gefährder und Straftäter. Nun hat der Rechtsstaat den Verantwortlichen eine Watschen verpasst – und der Minister schweigt. Ausgerechnet sein Haus wäre jetzt indes am Zug, ein Visum für die Rück­reise des Sami A. zu besorgen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort