Proteste in Großbritannien Die Brexit-Frustrierten machen mobil

London · Auf der Insel sind bis zu einer Million Menschen gegen den EU-Austritt der Briten auf die Straße gegangen. Die Tage von Premierministerin Theresa May scheinen derweil gezählt.

  Anti-Brexit-Proteste auf dem Londoner Trafalgar Square: Ein Motivwagen zeigt May, die mit einer langen Lügennase die britische Wirtschaft aufspießt.

Anti-Brexit-Proteste auf dem Londoner Trafalgar Square: Ein Motivwagen zeigt May, die mit einer langen Lügennase die britische Wirtschaft aufspießt.

Foto: AP/Tim Ireland

Am Mittag herrschte Stillstand in Londons sonst so geschäftigen Zentrum. Massen von Menschen strömten aus allen Richtungen herbei, füllten die Straßen rund um den Hyde Park über den Trafalgar Square bis zum Parlament in Westminster, ganz so als wäre ein Damm gebrochen. Hier waren sie, die Brexit-Frustrierten, die sich ungehört und vergessen fühlen und „den Wahnsinn stoppen“ wollen. Sie hielten Plakate in die Höhe, auf denen die Aktivisten „das völlige Chaos der Regierung“ anprangerten, Theresa May als „Premierministerin von niemandem“ kritisierten und europaskeptische Hardliner wie Ex-Außenminister Boris Johnson als „überkandidelte Lügner“ beschimpften. Begleitet von Trompetenmusik und Trillerpfeifen schwenkten sie EU-Flaggen und den Union Jack – vereint im Wunsch, mit den übrigen 27 Mitgliedstaaten in der EU vereint zu bleiben.

Eine Million Menschen, so die Schätzung der Organisatoren, protestierten am Samstag bunt und friedlich gegen den Brexit. Die Kampagne „People’s Vote“ (Volksabstimmung) fordert ein erneutes Referendum zum EU-Austritt und hatte zu dem Marsch aufgerufen. Am Ende kamen weitaus mehr als erwartet, auch zahlreiche Familien nahmen teil. „Wir sind nur Tage davon entfernt, von einer Klippe zu stürzen mit katastrophalen Folgen. Genug ist genug“, befand Londons Bürgermeister Sadiq Khan. Briten und EU-Bürger aus allen Ecken des Landes sowie vom Kontinent waren teils mit Sonderbussen angereist, wie etwa der 55-jährige Kenny aus dem mittelenglischen Lincoln. „Ich glaube, dass die Stimmung umgeschlagen hat und sich am Ende der gesunde Menschenverstand durchsetzen wird“, sagte er. Der Brexit sei ein „einziges peinliches Chaos“. Das Parlament solle nun die Kontrolle übernehmen und „uns noch einmal wählen lassen“.

So richtig überzeugt wirkte der gebürtige Schotte aber nicht – wie auch etliche andere Demonstranten an diesem Tag nicht wirklich an einen Erfolg der Aktion glaubten. Derzeit sieht es nämlich keineswegs danach aus, als ob die beeindruckenden Bilder des Protests die Regierung oder den Großteil der Abgeordneten umstimmen würden. Im Unterhaus gibt es nach wie vor keine Mehrheit für ein zweites Referendum, und die Brexit-Anhänger kontern regelmäßig, man habe die Bevölkerung – bis heute in der Europafrage tief gespalten – im Juni 2016 gefragt.

May beharrt ebenfalls stets darauf, „den Willen des Volkes“ respektieren zu wollen. Doch ihr steht eine Schicksalswoche bevor. Schon in den nächsten Tagen könnte die Premierministerin von ihrem eigenen Kabinett zum Rücktritt gezwungen werden, wie mehrere Medien am Wochenende berichteten. Obwohl sie noch im Amt ist, begannen bereits die Spekulationen über mögliche Nachfolger. Ein wenig ging es dabei innerhalb der konservativen Partei zu wie auf dem Basar. So hieß es etwa, dass der inoffizielle Vize-Premier David Lidington als Interimsregierungschef einspringen könnte, um zunächst einen neuen Kurs für den britischen EU-Austritt auszuloten. Gestern wies Lidington das zurück: Er habe kein Interesse am Posten in der Downing Street, betonte er.

Ebenfalls gehandelt wurde Umweltminister Michael Gove, der als „Königsmörder“ gilt, seit er nach dem Referendum 2016 Boris Johnson in den Rücken gefallen war. Erst wollte er diesen als künftigen Pre­­­­­­­­mier unterstützen, dann änderte Gove plötzlich seine Meinung und kandidierte selbst.

Daneben sollen sich hinter den Kulissen auch Außenminister Jeremy Hunt, der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab, Innenminister Sajid Javid und Ex-Chefdiplomat Boris Johnson als mögliche Kandidaten empfohlen haben. Und Theresa May? Sie hofft noch immer, dass das völlig zerstrittene Parlament ihren mit Brüssel ausgehandelten Austrittsdeal nächste Woche billigen wird. Doch die Chancen stehen auch dieses Mal – es wäre der dritte Versuch – schlecht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort