Längere Lebensarbeitszeit Proteste gegen Rentenreform in Russland

Moskau · Männer sollen künftig fünf, Frauen sogar acht Jahre länger arbeiten als bisher. 90 Prozent der Russen lehnen das ab.

 Gerade linke Gruppierungen in Russland protestieren heftig gegen die Rentenpläne der Regierung: Bei dieser Kundgebung in Moskau sind auch Bilder des kommunistischen Ex-Diktators Josef Stalin zu sehen.

Gerade linke Gruppierungen in Russland protestieren heftig gegen die Rentenpläne der Regierung: Bei dieser Kundgebung in Moskau sind auch Bilder des kommunistischen Ex-Diktators Josef Stalin zu sehen.

Foto: dpa/Thomas Körbel

Zehntausende Russen haben gegen eine umstrittene Erhöhung des Rentenalters demonstriert und den Rücktritt von Regierungschef Dmitri Medwedew gefordert. Gewerkschaften, die Kommunistische Partei und linke Gruppen mobilisierten ihre Anhänger am Wochenende in Dutzenden russischen Städten, darunter St. Petersburg, Jekaterinburg, Nowosibirsk und Wladiwostok. In Moskau gingen am Samstag nach verschiedenen Schätzungen zwischen 6500 und 12 000 Menschen auf die Straße. Auch gestern gab es Kundgebungen gegen die Rentenreform.

Die Regierung will das Rentenalter bis 2034 schrittweise anheben. Männer sollen statt wie bisher mit 60 künftig mit 65 Jahren in Rente gehen, Frauen sollen 8 Jahre länger arbeiten – bis 63.

Stand Januar 2018 leben in Russland rund 46 Millionen Rentner, das entspricht etwa 32 Prozent der Bevölkerung. Die Durchschnittsrente beträgt umgerechnet rund 200 Euro. „Man kann von der Rente leben, wenn man das Geld nur für Essen und die Wohnung ausgibt und einmal im halben Jahr etwas zum Anziehen kauft. Für mehr reicht es nicht“, sagte die Rentnerin Nadeschda (59) bei der Kundgebung in Moskau.

Die Pläne hatten landesweit einen Schock ausgelöst. Viele hatten auf eine Rentenerhöhung gehofft, nun sollen sie länger arbeiten. Den unabhängigen Meinungsforschern vom Lewada-Zentrum zufolge lehnen rund 90 Prozent der Russen die Reform ab.

Gewerkschaftler brachten eine Online-Petition auf den Weg, die rund 2,9 Millionen Menschen (Stand gestern) unterzeichnet haben. Darin argumentieren sie, dass in Dutzenden Gebieten Russlands die Lebenserwartung für Männer unter 65 Jahren liege. „Eine Umsetzung der vorgeschlagenen Erhöhung des Rentenalters heißt, dass ein großer Teil der Bürger nicht bis zur Rente überleben wird.“ Auch beim Protest in Moskau gab es Plakate, auf denen stand: „Ich sterbe bis zur Rente.“ Im russischen Durchschnitt beträgt die Lebenserwartung für Männer etwa 67 und für Frauen rund 77 Jahre.

Welch soziale Sprengkraft das Projekt in Russland birgt, zeigen auch Auseinandersetzungen im Parlament. Während die Regierungspartei Geeintes Russland das Gesetz in erster Lesung fast geschlossen durchwinkte, formierte sich in der eigentlich als systemnah geltenden Opposition Widerstand. „Es ist schwierig, sich andere Entscheidungen der Staatsmacht vorzustellen, die eine derart einhellige Ablehnung auslösen“, kommentierte der Soziologe Denis Wolkow von Lewada.

Nur einer hielt sich lange bedeckt: Gut einen Monat dauerte es, bis sich Präsident Wladimir Putin äußerte. Ihm gefalle die Erhöhung des Eintrittsalters nicht, doch sie sei notwendig, sagte er. 1970 seien auf einen Rentner noch 3,7 Arbeiter gekommen, heute kämen „auf fünf Pensionäre sechs Arbeitnehmer, und deren Zahl wird sinken“, sagte Putin. „Dann wird das System platzen.“ So stellte sich Putin demonstrativ hinter seine Regierung.

Für den Herbst, wenn weitere Abstimmungen anstehen, erwarten Experten neue Proteste. Doch nur wenige trauen dem Thema bei aller Brisanz zu, langfristig Massen zu mobilisieren. Wolkow sagte, die schärfsten Kritiker kämen aus der alten Garde der Opposition. Und der vertrauten viele Russen nicht.

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