Warten auf ein Spenderherz „Das hier ist ein Aufenthalt auf Herz oder Tod“

Saarbrücken/Heidelberg · Der Organspende-Mangel hat im Saarland ein bekanntes Gesicht: das von Jörg Metzinger. Er macht gegen die Spende-Trägheit mobil.

 Seit März 2017 ist ein Zweibettzimmer der Universitätsklinik in Heidelberg das Zuhause von Jörg Metzinger. 

Seit März 2017 ist ein Zweibettzimmer der Universitätsklinik in Heidelberg das Zuhause von Jörg Metzinger. 

Foto: Universitätsklinikum Heidelberg/Hendrik Schröder

Es gibt keine dummen Fragen. Aber es gibt ungeheuerliche Fragen, die man, während man sie stellt, gerne wieder zurückrufen würde. Im Gespräch mit Jörg Metzinger lautete sie: „Was ist, wenn sich kein passendes Herz findet, wie lange müssen Sie noch in der Klinik bleiben?“ „Bis ich sterbe“, sagt der 55-Jährige ohne jedes Zögern, „Das hier ist ein Aufenthalt auf Herz oder Tod.“

Sein Vergleich von einer Art „Haft ohne Freigang“ fällt später, in einem gleichermaßen verblüffenden, sachlichen Tonfall. Seit 238 Tagen steht Metzinger auf der Hochdringlichkeitsliste für eine Herztransplantation, während dieser Zeit ist sein Leben in der Heidelberger Universitätsklinik auf einen 50-Meter-Radius geschrumpft, auf Krankenhausflur-Tristesse. Metzinger geht am Rollator, immerhin. Seine Mitleidenden in der Heidelberger Universitätsklinik – acht sind es aktuell – dürfen mitunter das Bett nicht mehr verlassen, monatelang. Andere hängen an der Beatmungsmaschine. Und alle warten. Wir werden vergessen und verrotten, wird Metzinger sinngemäß im Zuge des Telefonats sagen. Ohne Wut oder Vorwurf. Was es noch schlimmer macht, weil er die Formulierung offensichtlich als Tatsachenbeschreibung wählt.

Organspende-Mangel in Deutschland? Die Zahlen auf einem Tiefstand seit 20 Jahren? Das klingt abstrakt. Metzingers Todesangst ist konkret. Der frühere „bunt-statt-braun“-Initiator, seit 15 Jahren evangelischer Pfarrer im Saarbrücker Stadtteil Schafbrücke, Vorsitzender des Vereins Saarblues e.V., braucht ein Spender-Herz. Aus der Klinik heraus macht er jetzt gegen die Spende-Trägheit der Bürger mobil.

Metzinger? Man hat einen vitalen, kräftigen Mann vor dem inneren Auge, „The Reverend“, der die Blues-Gitarre heulen lässt und 2009 eine Initiative gegen Rassismus startete. Bei der ersten „bunt-statt-braun“-Demonstration brachte dieser Mann so viele Saarländer wie nie zuvor auf die Straße. Wie geht es ihm? „Wir sind eine skurrile WG“, sagt er, er sei der „Dienstälteste“, der mit der längsten Wartezeit. Man ticke hier schon sehr anders und sonderbar, meint er. So fieberten beispielsweise alle auf etwas und sehnten herbei, was „die da draußen“ als Katastrophe sähen: eine lebensbedrohliche Operation. Auch berichtet Metzinger von zwei Konzerten, mittendrin im Klinikbetrieb, eines davon mit Blues-Freunden aus dem Saarland und mit ihm an der Gitarre. Zumindest in der Heidelberger Klinik habe ihn dieser Auftritt „unsterblich gemacht“.

Aber noch bizarrer klingt die Sache mit dem Raclette-Essen seiner WG an Weihnachten. Den Tisch hatte man auf dem Flur platziert, Ärzte hasteten vorbei – zum Wiederbeleben. Galgenhumor? Überlebenskampf. „Wer sich hier aufgibt, für den war’s das“, stellt Metzinger fest. Mit diesem Wissen lässt sich die Wirkung, die der Alarmruf der Deutschen Stiftung Organtransplantation vergangene Woche auf Patienten in Transplantationskliniken gehabt haben dürfte, als lebensbedrohlich beschreiben. Nur noch 797 Spender waren es im vergangenen Jahr, 60 weniger als im Jahr 2016. Krasser ausgedrückt: Rund jeden dritten Tag ist 2017 ein Patient gestorben, weil es nicht rechtzeitig eine passende Niere, Leber, Lunge oder ein Herz gab. 10 000 Kranke warten derzeit, im Schnitt 100 Tage. In Spanien hingegen, wo eine andere, die Widerspruchsregelung für eine Organentnahme gilt, warten sie nur etwa 14 Tage.

„Ich sehe mich in der Pflicht, etwas zu tun“, sagt Metzinger. „Ich kann mithelfen, das gesellschaftliche Klima für dieses Thema zu verändern.“ Also agiert er über Facebook aus dem Krankenbett heraus, hat sich zudem für eine „Bild am Sonntag“-Kampagne fotografieren lassen und appelliert über die Saarbrücker Zeitung an die Politik, das „einzigartig bescheuerte“ Transplantationsgesetz in Deutschland zu ändern, Transplantationsbeauftragte für Kliniken vorzuschreiben und finanziell zu fördern, und die Organentnahme in Deutschland genau so hoch zu entlohnen wie in anderen europäischen Ländern. In Kroatien, berichtet Metzinger, werde eine Organentnahme mit 700 Euro „vergoldet“, in Deutschland würde nicht mal die Hälfte bezahlt. Also fehlten den Kliniken die Anreize.

Seinen Mitmenschen will Metzinger bewusst machen, dass sie Leid verhindern könnten, ohne selbst zu leiden: „Öffnet euer Herz für die, die in den Kliniken verborgen sind.“ Die Transplantations-Anwärter fühlten sich von Politik und Gesellschaft vergessen, meint er, und die Ärzte verzweifelten, weil sie ihre Patienten sterben sähen. „Jeder, der keinen Organspendeausweis hat, sollte wissen, dass er Kranke damit zu bis zu einem Jahr Haft verurteilt und manche sogar zum Tode.“ Das sind drastische Worte, Selbstmitleid klingt nicht mit. Auch kein Hader mit Gott oder seinem Glauben, im Gegenteil. Metzinger sagt, er habe „Stärke bezogen“, in Gebeten, Träumen, auch in Nahtoderfahrungen. Zweimal sei er dem Tod knapp von der Schippe gesprungen: „Ich war danach voll innerer Kraft. Ich glaube, diese Erfahrung ist nicht mitteilbar. Ich bin ja auch kein Superchrist, nur ein Berufschrist.“

Metzinger stabilisiert und motiviert sich mit der Vorstellung von einem Marathonlauf. Man dürfe seine Kräfte nicht gleich zu Beginn verschleudern, müsse sie einteilen, und man brauche „Menschen, die einem Bananen zustecken“. Die Besuche seiner Frau, die diese seit fast einem Jahr konsequent mittwochs und sonntags durchhält, nennt er „überlebensnotwendig“. Aber auch die Treue und Anteilnahme der Gemeindemitglieder, von Musikfreunden, von Schülern und Lehrern der Gemeinschaftsschule in Güdingen. Dort ist Metzinger mit einer halben Stelle beschäftigt. Viele schicken Aufmunterungen: Rhabarberlimonade, Johnny-Lee-Hooker-CDs, die Siegfried- Lenz-Novelle „Schweigeminute“.

All dies ist für Metzinger eine unverzichtbare Angel, die ihn über Wasser hält. Unterzugehen drohte er schon oft. Was er über seinen Krankheitsverlauf berichtet, klingt abenteuerlich. Vor vier Jahren entdeckte man seine Herzerkrankung bei einer Routineuntersuchung, zwei Jahre lang lebte er mit Herzrhythmusstörungen, bis ihm 2015 nach einem Mini-Schlaganfall der erste Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Der zweite Schlaganfall, im November 2016, machte Metzinger arbeitsunfähig. Denn auf das Einsetzen der zweiten Herzklappe samt Implantieren eines Defibrillators (Schockgeber) folgte der Totalabsturz, drei Monate lang: Notärzte, Klinikaufenthalte, Wiederbelebungen, zweimal Nahtoderfahrungen. Man fühle sich wie im Dauer-Granathagel im Krieg, meint Metzinger, der Erregungszustand gehe nicht mehr weg. Er verlor 20 Kilo, handelte sich einen Tremor ein, der heute noch wiederkehrt, wenn er in Stress gerät.

Vor einer Woche war es fast so weit mit seinem „Haftende“. Ein passendes Organ war da, mit der passenden Blutgruppe, weder zu schwer noch zu klein. Dann: Fehlalarm. Die OP wurde kurzfristig abgesagt, aus logistischen Gründen. Drei von Metzingers Mitleidenden mussten das ebenfalls schon mitmachen, bevor es klappte mit der Transplantation. Erfolgreich.

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