Prozess in der Türkei Nervosität, Tränen — und ein Luftkuss

Silivri · Über fünf Monate musste die Deutsche Mesale Tolu in türkischer U-Haft auf ihren Prozess warten. Und nun kommt sie immer noch nicht frei.

 Mesale Tolu – hier auf einem Schild mit der Forderung ihrer Freilassung.

Mesale Tolu – hier auf einem Schild mit der Forderung ihrer Freilassung.

Foto: dpa/Stefan Puchner

Mesale Tolu ist nicht anzumerken, dass sie seit mehr als fünf Monaten in der Türkei in Untersuchungshaft sitzt. Ihr Vater Ali Riza Tolu hatte seine Tochter vor Prozessbeginn als „stabil und stark“ beschrieben. Tatsächlich wirkt die 32-jährige Deutsche alles andere als eingeschüchtert, als sie am Mittwoch in Silivri westlich von Istanbul selbstbewusst vor den Richter tritt. Gut zehn Minuten dauert ihre schriftlich vorbereitete Verteidigung am ersten Verhandlungstag – in der sie die gegen sie erhobenen Terrorvorwürfe vehement zurückweist.

Vater Ali Riza Tolu sind Nervosität und Sorge dagegen deutlich anzumerken. Vor Prozessbeginn kommt der 58-Jährige zu den wartenden Journalisten, die sich auf dem Parkplatz vor dem Gerichtsgebäude aufgebaut haben, das wiederum an das berüchtigte Gefängnis in Silivri angrenzt: Hier sitzen die Deutschen Peter Steudtner und Deniz Yücel in Untersuchungshaft.

Vor den Reportern kritisiert Ali Riza Tolu die Bundesregierung, von der er sich „enttäuscht“ zeigt – und von der er sich mehr Engagement für die Freilassung seiner Tochter wünscht. Seine Aussagen und die eines türkischen Oppositionsabgeordneten werden zu einer improvisierten Pressekonferenz, bei der schließlich die Polizei einschreitet. „Hier sind Pressekonferenzen verboten“, sagt ein Polizist, ein Handgemenge scheint zu drohen, der Vater zieht schließlich empört ab.

Bereits vor Mesale Tolu war gegen ihren Ehemann Suat Corlu U-Haft verhängt worden. Der zweijährige Sohn ist bei der Mutter im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. Mesale Tolu sagt vor Gericht: „Aus diesem Grund ist die Untersuchungshaft nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und für meinen Sohn zur Bestrafung geworden.“ Vor ihrer Verteidigung sitzt Mesale Tolu im Gerichtssaal unter jenen Angeklagten, die wie sie in U-Haft sind. Auf der Besuchertribüne sieht Mesale Tolu vertraute Gesichter. Dort haben sich etwa 60 Zuschauer versammelt, darunter Mesale Tolus Vater, der sich immer wieder nervös über den grauen Vollbart streicht. Mesale Tolu schickt einen Luftkuss in seine Richtung. Links vom Vater sitzen eine Frau mit Kopftuch und ein älterer Herr. Beide brechen beim Verhör eines anderen jungen Angeklagten in Tränen aus. In der Reihe dahinter haben zwei deutsche Diplomatinnen vom Generalkonsulat in Istanbul Platz genommen, neben ihnen sitzt Linke-Fraktionsvize Heike Hänsel. Sie hat kurz vor Beginn des Verfahrens von einem politischen „Schauprozess“ gesprochen und mehr Druck der Bundesregierung gefordert, um Tolu, Yücel, Steudtner und die anderen deutschen Inhaftierten freizubekommen.

Als der Prozess am Vormittag beginnt, fordert einer der Anwälte, dass der Vorsitzende Richter ausgewechselt wird – weil derselbe Richter schon die Untersuchungshaft gegen die Angeklagten verhängt habe, was nach türkischem Recht nicht gestattet sei. Der Richter lehnt den Antrag ohne Angabe von Gründen ab.

Bei einer anderen Anwältin brechen bei der Aussage eines jungen Angeklagten die Emotionen durch. Das Leben unbescholtener Bürger werde ruiniert, weil sie für Straftaten ins Gefängnis gesperrt würden, die sie nicht begangen hätten, ruft sie. „Der Staat schafft sich seine Terroristen und seine Landesverräter selbst!“ Auch Tolu weist jede Schuld von sich. Ihr wird – wie den anderen 17 Beschuldigten bei dem Prozess – Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Laut ihrer Anwältin Kader Tonc drohen Tolu bis zu 20 Jahre Haft.

Am Ende des ersten Verhandlungstages lehnte das Gericht den Antrag von Tolus Anwälten ab, ihre Mandantin bis zu einem Urteil auf freien Fuß zu setzen. Mesale Tolu muss demnach in Untersuchungshaft bleiben.

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