Mazedonien stoppt Flüchtlinge

Athen · Ein Zaun im Süden des Balkans droht zum Symbol des Scheiterns der europäischen Flüchtlingspolitik zu werden. Tausende Menschen flehen die Behörden an: Öffnet die Grenze!

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich um die Mittagszeit an der griechischen Grenze zu Mazedonien bei Idomeni ein Gerücht: "Die Grenze ist auf! Los, los, sie ist offen!" schreit ein aufgeregter junger Migrant. Die Szene wird live vom griechischen Fernsehen übertragen. Chaos bricht aus. Hunderte Flüchtlinge lassen ihre Habseligkeiten zurück, schnappen ihre Kinder und laufen Richtung Grenzzaun. Dort erwartet sie die bittere Realität der Balkanroute: Die von Mazedonien errichtete Barriere bleibt geschlossen.

Vielen der Menschen, die von einer Zukunft in Europa träumen, packt die Wut. Mit Tränen in den Augen schreien sie: "Wir wollen los! Macht den Zaun auf!" Auf der anderen Seite des Zauns bringt sich mazedonische Bereitschaftspolizei in Stellung: Mit Helmen und Schildern geschützt eilt sie zur Grenze. Die Bilder zeigen, wie Steine fliegen. Einige kräftige Migranten fangen an, den Zaun niederzureißen. Sie ziehen an den teils scharfen Drähten, rütteln hin und her, bis ein Pfahl und schließlich ein großes Stück des Zauns nachgeben und fallen. "Nur durch ein Wunder hatten wir keine Verletzten", sagt ein Fotograf, der das Geschehen abbildet. Jetzt stehen sich Flüchtlinge und Polizisten Antlitz zu Antlitz gegenüber.

Die Bereitschaftspolizisten auf der mazedonischen Seite fürchten, von den Migranten überrannt zu werden. Sie setzen massiv Tränengas ein. Binnen Sekunden bricht neue Panik aus, die Flüchtlinge laufen zurück, stolpern, stürzen, trampeln sich nieder. Mindestens 15 Verletzte zählen Hilfsorganisationen später - darunter neun Kinder, viele mit Atemwegsbeschwerden.

Der Flüchtlingszustrom von der Türkei über die griechischen Inseln in der Ägäis und weiter auf das Festland reißt nicht ab. Und die Balkan-Staaten sowie Österreich lassen nur noch wenige Flüchtlinge und - wie im Falle Mazedoniens - nur noch bestimmte Nationalitäten durch. Menschen, die Tausende Kilometer aus Afghanistan, Pakistan, Irak und Syrien, aber auch aus Nord-Afrika gereist sind, kommen täglich in Griechenland an. Alle Aufnahmelager sind restlos überfüllt. Tausende Menschen harren auf öffentlichen Plätzen aus oder sind mit allen möglichen Mitteln und auch zu Fuß unterwegs zur Grenze im Norden.

Szenen des Elends spielen sich auch in und um den Viktoria-Platz in Athen ab, der als Drehscheibe der Aktivitäten von Schleuserbanden gilt. Am Montag halten sich mehr als 600 Menschen, darunter Familien mit Kleinkindern, hier auf. Kinder schreien und weinen. Es stinkt nach Urin. Öffentliche Toiletten gibt es nicht.

Mütter flehen Passanten und Journalisten an, ihnen zu helfen, nach Mitteleuropa zu kommen: "Bitte, bitte, ich will nur mein Kind retten." Viele Migranten zeigen sich entschlossen: "Wir werden entweder weiterfahren (nach Mitteleuropa) oder wir werden hier sterben", sagen sie Reportern.

Dutzende Einwohner Athens sowie freiwillige Helfer aus den Niederlanden, Spanien, Italien und Südkorea verteilen Lebensmittel an die Menschen am Viktoria-Platz und in der Hafenstadt Piräus. "Sehr viele Kinder sind erkältet. Ich fürchte, wir werden bald Lungenentzündungen haben", sagt eine griechische Ärztin im Fernsehen .

Das Elend hindert die Schlepper nicht daran, den Flüchtlingen neue Angebote zu machen. "Für 3000 Euro pro Kopf versprechen sie uns über "neue geheime Wege" nach Deutschland zu bringen", sagte gestern ein Familienvater aus Afghanistan.

Meinung:

Zu viele Zäune im Herzen

Von SZ-KorrespondentWerner Kolhoff

Wer kein Herz hat, mag ungerührt sein. Es gab ja in Ungarn schon eine Kamerafrau, die Flüchtlingen ein Bein stellte. Wer Herz hat, findet unerträglich, was passiert. Das sind Flüchtlinge, keine Verbrecher. Das Tränengas und die Tränen, die auch ohne Gas fließen, sind nicht die unschöne Folge einer unabdingbaren Maßnahme, frei nach dem Motto: "Wo gehobelt wird, fallen Späne." Sondern sie sind die Folge massiver Kälte und des Versagens der europäischen Nationen. Mag für Deutschland und wenige andere Länder eine Grenze der Belastung in Sicht sein (doch da geht noch viel mehr), für Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern ist sie es bei einer Million Flüchtlinge noch lange nicht. Herr Seehofer, Frau Klöckner, Herr Orban, Frau Petry: Auf dem Balkan und in Österreich gibt es jetzt Ihre Obergrenze. Alles, wie Sie es vorgeschlagen haben. Fahren Sie hin, gucken Sie sich das Ergebnis an. Und sagen Sie etwas. Irgendetwas Sinnvolles.

Zum Thema:

HintergrundDie umstrittene Räumung des Flüchtlingslagers in Calais hat begonnen. Das bestätigte gestern ein Sprecher der Präfektur. Im französischen Fernsehen war zu sehen, wie provisorische Unterkünfte der Migranten eingerissen wurden. Mehrere Hilfsorganisationen versuchten, die Auflösung mit Protesten zu verhindern. Etwa 800 bis 1000 Einwanderer , die im Süden des als "Dschungel von Calais" bekannten Baracken- und Zeltlagers leben, sind von der Räumung betroffen. dpa

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