"Kirche ist nicht Selbstzweck"

Herr Glück, die Menschen in Deutschland suchen nach Sinn und Werten. Das könnte doch die Stunde der Kirchen sein.Glück: Wir leben in mehrfacher Hinsicht in epochalen Veränderungen. Das gilt auch für den Bereich der Kirchen. Immer mehr Menschen spüren, dass ein "Weiter so" nicht mehr funktionieren wird, aber wie es funktionieren soll, weiß man auch nicht

 Alois Glück mahnt, dass Frieden in Europa in Zeiten der Krise nicht selbstverständlich ist. Foto: dpa

Alois Glück mahnt, dass Frieden in Europa in Zeiten der Krise nicht selbstverständlich ist. Foto: dpa

Herr Glück, die Menschen in Deutschland suchen nach Sinn und Werten. Das könnte doch die Stunde der Kirchen sein.

Glück: Wir leben in mehrfacher Hinsicht in epochalen Veränderungen. Das gilt auch für den Bereich der Kirchen. Immer mehr Menschen spüren, dass ein "Weiter so" nicht mehr funktionieren wird, aber wie es funktionieren soll, weiß man auch nicht. In dieser Situation ist die Verdrängung von Entwicklungen sehr ausgeprägt. Die Kirchen müssen sich die Frage stellen, wie es möglich ist, dass auf der einen Seite so viele Menschen wie noch nie auf der Suche nach Sinn unterwegs sind, dass Religion wieder einen höheren Stellenwert hat, aber diese Suche nicht automatisch mit den christlichen Kirchen verbunden wird.

Ist die katholische Kirche immer noch zu sehr mit Themen beschäftigt, die gefühlt Jahrhunderte vor unserer Zeit spielen?

Glück: Die grundsätzlichen Fragen - seien es die religiösen oder die nach der Qualität des Zusammenlebens - bleiben für die Menschen immer gleich. Aber die katholische Kirche ist in einem epochalen Veränderungsprozess - vergleichbar mit der Zeit der Säkularisation, als die alte Reichskirche mit ihren Herrschaftsstrukturen zusammengebrochen ist. Es ist noch viel zu wenig gelungen, dem Menschen von heute die Botschaft des Evangeliums verständlich zu machen. Die traditionellen religiösen Formen sind heute für immer mehr Menschen nicht mehr zugänglich. In den Kirchen herrscht zwar viel Verunsicherung, aber auch zu wenig Bereitschaft, sich mit den notwendigen Veränderungen auseinanderzusetzen.

Kann heute eine Institution für die Menschen attraktiv sein, die Frauen nicht einmal gleich behandelt?

Glück: Auf der einen Seite meint die überwältigende Mehrheit der Christen: Was die Kirche sagt, ist für meine persönliche Lebensgestaltung letztlich nicht ausschlaggebend. Gleichzeitig hat die Gesellschaft immer höhere Erwartungen an die Bedeutung der Kirchen. Es gibt im kirchlichen Bereich auch einen gefährlichen Selbstschutzreflex. Man setzt sich nicht selbstkritisch genug mit der eigenen Sprache, dem eigenen Erscheinungsbild und auch unwahrhaftigen Entwicklungen auseinander, sondern schiebt die Probleme auf den Menschen von heute, der zu oberflächlich wäre und nicht mehr glauben wolle. Entscheidend ist, ob der Weg zu den Menschen von heute gesucht wird. Kirche ist nicht Selbstzweck, auch nicht ihre Ämter und Strukturen. Notwendig ist mehr kritische Selbstreflexion.

Könnte die Kirche punkten, wenn sie mehr auf Gerechtigkeit setzt?

Glück: Die Sinnfragen für das Leben und die Frage der Beziehungen zu Gott greifen über das Thema Gerechtigkeit natürlich hinaus, aber gleichzeitig sind Fragen des Friedens und der Gerechtigkeit ein unverzichtbarer Teil christlichen Glaubensverständnisses. In diesem Bereich haben aber die christlichen Kirchen auch heute schon eine durchaus wirksame Rolle, übrigens auch beim Thema des Lebensschutzes. Das sind zentrale Themen, wo die Gesellschaft dringend das Wächteramt der Kirchen benötigt.

Bekommen wir jetzt präsentiert, was Sie seit langem immer wieder als "Vollkostenrechnung für unsere Art zu leben" angekündigt haben?

Glück: Dass früher alles besser war, ist ein Märchen. Jetzt spüren immer mehr Menschen, dass unsere heutige Art zu leben nicht zukunftsfähig ist. Wir stehen vor der epochalen Aufgabe, eine zukunftsfähige Kultur zu entwickeln - eine Art zu leben und zu wirtschaften, die langfristig tragfähig ist, nicht mehr auf Kosten der Nachkommen geht, welche die Natur nicht dauernd überfordert. Ein Beispiel dafür ist die europäische Schuldenkrise. Ihr Kern ist, dass die einen mehr, die anderen weniger, aber letztlich alle miteinander seit Jahren nicht mehr erwirtschaften, was unsere Art zu leben kostet.

Müssen wir uns Sorgen machen, dass Europa im Zuge der Euro-Krise wieder in eine Phase des Nationalismus zurückfällt?

Glück: Die alten Vorurteile der europäischen Völker quer durch den Kontinent werden wieder lebendig. Es wird deutlich, dass Frieden und Zusammenarbeit in Europa nicht selbstverständlich und keine Selbstläufer sind. Jetzt, da Krisen aufbrechen, werden ganz schnell die alten Geister wieder wach. Ich finde, wir sind dafür viel zu wenig sensibel. Bei allen notwendigen kritischen Debatten über Schulden und Zukunft des Euro müssen wir viel mehr eine offensive Europadiskussion führen. Wenn Europa über ökonomische Vorgänge auseinanderbricht oder gelähmt wird, brechen enorme Konflikte zwischen den europäischen Völkern auf und dann hat Europa auch nichts mehr zu melden in den Fragen, die weltweit für uns von Bedeutung sind.

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