Jeremy Corbyn neuer Parteichef: Labour steuert hart nach links

London · Auch wenn es die Umfragen angedeutet haben, ist es doch eine Sensation: Die britische Labour-Partei hat mit dem Sozialisten Jeremy Corbyn einen neuen Vorsitzenden, an den vor ein paar Wochen noch niemand geglaubt hätte. Der Altlinke könnte für einen fundamentalen Wandel bei den Sozialdemokraten sorgen

Der "Bürgerkrieg" bei Labour, wie ihn Medien nannten, brach nur Minuten nach der historischen Sensationsverkündung aus. Der Sozialist Jeremy Corbyn wurde zum neuen Chef der britischen Arbeiterpartei gekürt - und fast die Hälfte seines Schattenkabinetts meuterte. Dabei hatte der 66-Jährige, der seit mehr als drei Jahrzehnten als radikaler Hinterbänkler im Parlament sitzt, mit 59,5 Prozent der Stimmen einen überwältigenden Sieg eingefahren. Und sich überraschend deutlich gegen seine drei Mitbewerber durchgesetzt, deren Programme sich kaum vom bisherigen Labour-Weg unterschieden. Corbyn? Ein unerfahrener Außenseiter. Ein leidenschaftlicher Sozialist. Ein notorischer Rebell. Und offenbar genau das, was sich die Mehrheit der Sozialdemokraten , die seit der desaströsen Niederlage bei der Parlamentswahl im Mai in einer tiefen Identitätskrise stecken, wünscht. Damals trat der glücklose Vorsitzende Ed Miliband zurück. Der Partei steht jetzt ein fundamentaler Wandel bevor. Corbyn gehört zu den energischsten Kritikern der Sparpolitik der konservativen Regierung, fordert höhere Steuern für Reiche und den Austritt aus der Nato , eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die Abschaffung der britischen Atomwaffen. Seine Pläne sind ein Albtraum für jene Parteikollegen, die den wirtschaftsfreundlichen New-Labour-Kurs des Ex-Premiers Tony Blair unterstützen. Und eine Katastrophe für das Labour-Establishment. Auch die Konservativen geiferten sofort, Labour sei nun ein "ernsthaftes Risiko für die Sicherheit unserer Nation, unserer Wirtschaft und unserer Familien". Corbyns größte politische Herausforderung wurde denn auch sofort nach Verkündung des Abstimmungsergebnisses offenbar: Noch während er seine Antrittsrede hielt, legte mit Jamie Reed der erste Minister im Schattenkabinett sein Amt nieder, zahlreiche Kollegen folgten am Wochenende seinem Beispiel. Die Partei ist tief gespalten. Viele werden dem radikalen Klassenkämpfer die Gefolgschaft verweigern. Oder sind zumindest auf Konfrontationskurs mit seinem Retro-Programm. Das weiß auch Corbyn. Dementsprechend versöhnlich trat er am Samstag auf. Die Partei werde "vereint und absolut entschlossen" für eine "bessere und gerechtere Gesellschaft" kämpfen, versprach er.

Derweil wird Corbyn von seinen Fans gefeiert wie ein Superstar. Er spricht sie an, wenn er etwa gegen Banken und die Finanzelite wettert. Und Corbyn tritt als Gegenmodell zu seinen von PR-Profis herausgeputzten Politikkollegen in Westminster auf. Er wirkt authentischer und man nimmt ihm ab, was er sagt. Der Altlinke hechelt keinen Umfrageergebnissen hinterher, sondern bleibt sich seit Jahrzehnten treu. Auch dieses Wochenende. Nachdem sein Sieg verkündet wurde, eilte er aus dem Konferenzzentrum - zu einer Kundgebung für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen.

Meinung:

Radikaler Wechsel

Von SZ-Korrespondentin Katrin Pribyl

Vor wenigen Monaten noch kannten Jeremy Corbyn nur Politikinsider. Jetzt sorgte er für eine Sensation: Der Altlinke führt künftig eine der großen Volksparteien Europas an. Nach der desaströsen Wahlniederlage im Mai hatte die Partei einen Neuanfang nötig. Nun handelt es sich um einen radikalen Wandel. Schon ziehen sich Kritiker aus den Frontreihen zurück, dabei könnten sie Corbyns Sieg auch als Chance oder zumindest als Aufgabe sehen. Sie müssten es, denn Corbyn hat überwältigend gewonnen. Die Gewerkschaften und die Partei-Basis votierten neben Unterstützern, die sich für drei Pfund registrieren ließen, für ihn. Insbesondere junge Briten und diejenigen am unteren Rand der Gesellschaft haben in Zeiten strikter Austeritätspolitik den Eindruck, ihre Stimme verloren zu haben. Corbyn soll sie ihnen zurückgegeben. Dafür aber gilt es die Herkulesaufgabe zu bewerkstelligen, die Partei zu einen. Zum ersten Mal muss auch der prinzipientreue Sozialist Kompromisse eingehen und seine Ideen mit der Realität abgleichen. Nur wenn er das schafft, könnte wieder eine starke und dringend notwendige Opposition in Westminster einziehen.

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