Jean-Claude Juncker „Beim Brexit sind wir in Gottes Hand“

Brüssel · Der Präsident der EU-Kommission spricht über den Austritt der Briten und Streitereien innerhalb der Union.

 Seit seinem Amtsantritt 2014 hat Jean-Claude Juncker einiges erreicht. Doch nicht alles gelang ihm.

Seit seinem Amtsantritt 2014 hat Jean-Claude Juncker einiges erreicht. Doch nicht alles gelang ihm.

Foto: dpa/Francisco Seco

Nach der Europawahl im Mai wird Jean-Claude Juncker nicht erneut als EU-Kommissionspräsident kandidieren. Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit spricht der Luxemburger im Interview mit unserer Zeitung über den schwierigen Scheidungsprozess mit den Briten und den inneren Zustand der Union. Die EU ist für Juncker mehr als ein Wirtschaftsprojekt.

In weniger als 100 Tagen wird in Europa gewählt. Mit welcher Idee kann man besser die Menschen für die EU begeistern: „Europa das Friedensprojekt“ oder „Europa das Wirtschaftsprojekt“?

JUNCKER Beides, und die Aufzählung ist noch nicht komplett. Man muss den Menschen, gerade den Jüngeren, immer erklären, wieso sich nach dem Zweiten Weltkrieg kluge Staatsmänner auf den Weg zur europäischen Integration gemacht haben. Das hat mit dem Gedanken von Pax Europaea (Der europäische Frieden, Anm. d. Red.) zu tun. Das ist ein Motiv europäischen Wirkens und Werdens, das bis heute an Bedeutung nicht eingebüßt hat. Wann immer ich diese alte Friedenserklärung in Sälen vortrage, wo auch junge Leute sitzen, ist die Aufmerksamkeit groß. Ich glaube, dass junge Menschen, auch wenn sie Frieden für eine Selbstverständlichkeit halten, für dieses Thema immer noch zu begeistern sind. Das liegt einfach in den Genen der europäischen Familie. So viele Familien haben so schreckliche menschliche Verluste erlitten.

Und das Europa der Wirtschaft?

JUNCKER Und dann kommen natürlich Themen hinzu wie der Binnenmarkt, die Währungsunion, die Abschaffung der Schlagbäume. Was Europa ausmacht, das lässt sich nicht nur von der Vergangenheit her erleben und erklären, sondern auch von dem Gedanken der perspektivischen Zukunftsgestaltung. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Europäer 25 Prozent Anteil an der Weltbevölkerung. Nun sind wir bei sieben Prozent, Ende des Jahrhunderts werden wir weit darunter sein. Unser Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung nimmt ständig ab. Kein einziges europäisches Land wird in absehbarer Zeit noch in der Gruppe der sieben größten Wirtschaftsnationen sein. Damit will ich sagen: Alle, die auf der populistischen Schiene unterwegs sind, und uns erklären, dass der Nationalstaat die richtige Bezugsgröße ist, irren sich fundamental. Die europäischen Nationen werden weltweit ihre Durchsetzungskraft verlieren, wenn wir nicht unsere Reihen schließen.

Also die Vereinigten Staaten von Europa?

JUNCKER Ich bin niemand, der die Bedeutung, die Wirkung und das Atmosphärische der Nationalstaaten und ihrer reichen regionalen Vielfalt geringschätzt. Europa kann sich nicht gegen den Nationalstaat auf den Weg machen. Ich bin kein Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa. Die Menschen wollen Baden-Württemberger, Westfalen und Flamen bleiben. Man muss aber die Sinne schärfen: Es gibt kein Land in Europa, auch nicht das große und wirtschaftlich mächtige Deutschland, das in der Zukunft allein seine Selbstbehauptung in der Welt schaffen wird. Deutschland wird sich nur selbst behaupten, wenn es die EU gibt. Und wenn dies für Deutschland gilt, dann gilt es für alle anderen auch.

Muss man nicht den Friedensgedanken nicht nur historisch, sondern auch im Blick auf die Zukunft hervorheben?

JUNCKER An der Peripherie der EU gibt es Brandgefahr. Ich nenne nur die Krim und die Ukraine. Das alte Thema Krieg ist also immer auch ein aktuelles Thema. Man weiß nie, ob diese Ereignisse, die man dort betrüblicherweise feststellen muss, nicht wieder überschwappen. Das ist auch das Fragile Europas. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass wir auf dem Gebiet der EU wieder irgendwo kriegerische Auseinandersetzungen haben werden, ich halte es aber für möglich, dass einzelne Länder Gefahr laufen, irgendwann Position ergreifen zu müssen bei kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrer Nachbarschaft an der Peripherie der EU. Daher bin ich der Meinung, dass wir in Fragen der Außenpolitik statt mit Einstimmigkeit mit qualifizierter Mehrheit abstimmen müssen, damit wir handlungsfähiger werden.

Aber auch in der EU, selbst unter Gründungsstaaten nimmt die Ruppigkeit zu. Frankreich zieht seinen Botschafter aus Italien ab, italienische Regierungsmitglieder solidarisieren sich mit den Gelbwesten. Was macht das mit der EU?

JUNCKER Was wir zwischen Frankreich und Italien erlebt haben, das war ein Tiefschlag. Hoffentlich bleibt er ein Einzelereignis. Ruppigkeiten? Ja, davon gibt es viele, auch von Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission. So hat Ungarns Viktor Orban kürzlich gesagt, in Brüssel würde die sozialistische Internationale herrschen. Meine Erklärung dafür ist: Die Europäer untereinander lieben sich nicht mehr genug, weil sie voneinander zu wenig wissen. Man konzentriert sich auf die eigene Nabelschau und nimmt nicht mehr zur Kenntnis, dass die anderen Nationen auch einen Nabel haben. Viele haben es verlernt, sich in die Situation der anderen zu denken. Dieses Gefühl, dass man nur für sich selbst zuständig wäre, nimmt zu, und das ist nicht gut für die Einheit unserer Union.

Welche Konsequenzen fürchten Sie?

JUNCKER Wer in Europa schlechte Gefühle zwischen den Völkern nährt und sie dann in der Schwebe lässt, der rüttelt an dem fundamentalen Solidaritätsgedanken, der Europa zu Grunde liegt. Er verbietet es damit Europa, weiter zu fliegen als andere Teile der Welt, die nicht diese innere Geschlossenheit haben. Das macht mir Sorgen.

Wie soll man mit den Populisten umgehen?

JUNCKER Ich mache einen Unterschied. Es gibt viele Menschen, die berechtigte Fragen an Europa haben, die die Abläufe vielleicht nicht verstehen. Diese Menschen darf man nicht beschimpfen. Sie müssen in ihrer Kritik ernst genommen werden. Diejenigen allerdings, die Fundamentalkritik am europäischen Integrationsprozess üben, weil sie ihn ablehnen, weil sie all die nicht mögen, die von außen kommen, die ihre Nachbarn nicht mögen, die eine exklusive Selbstverliebtheit haben, die muss man bekämpfen. Besonders wenn sie von der extremen Rechten inspiriert sind. Europa hat die schrecklichsten Erfahrungen gemacht mit dem Durchmarschieren-Lassen der Rechtsextremen. Dagegen muss man aufstehen. Auch in Deutschland sagen sie jetzt wieder: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen...“. Nein, es gibt Dinge, die man nicht mehr sagen darf.

Sie haben in Ihrem Mandat viel erreicht. Der Wirtschaft geht es besser als zu Ihrem Amtsantritt, es sind Millionen von Jobs entstanden. Aber Sie und der französische Präsident haben auch institutionelle Reformen angestoßen. Etwa die Verkleinerung der Kommission, Mehrheitsbeschlüsse bei Steuern und in der Außenpolitik, den europäischen Finanzminister. Daraus ist nichts geworden. Hat Deutschland Sie und Macron im Stich gelassen?

JUNCKER So sehe ich das nicht. Es ist eine irrige Vorstellung, dass Deutschland und Frankreich allein die Dinge zum Schwingen bringen in Europa. Sie ist vor allem in Deutschland verbreitet. Was stimmt, ist: wenn beide Länder fundamental auseinanderstreben, geht nichts in Europa. Aber wenn sie sich einig sind, heißt es noch lange nicht, dass alles läuft. Die Vorschläge, die ich in meiner Rede zur Lage der Union 2017 vorgelegt habe, und die Macron dann in seiner Sorbonne-Rede aufgegriffen hat, waren zunächst in vielen Mitgliedstaaten der EU nicht populär. Jetzt ändert sich das. Nur langsam ernährt sich das Eichhörnchen und findet plötzlich Gefallen an dem Futter, das ihm vorgelegt wird.

Hat Merkels Stimme in Europa heute weniger Gewicht als vor der Bundestagswahl?

JUNCKER Angela Merkel hat in Europa nach wie vor Gewicht. Wenn der französische Staatspräsident oder die deutsche Bundeskanzlerin bei Gipfeln das Wort ergreifen, dann hat das schon einmal immer Gewicht. Und im Fall Merkels hat ihr Wort besonderes Gewicht. Sie hat über Jahre hinweg gezeigt, dass sie Führungsqualitäten hat. Und dass der Führungsanspruch gerechtfertigt ist, weil sie die Zustimmung vieler bekommt.

Ist Brüssel bereit, den Briten beim Brexit mehr Zeit zu geben.

JUNCKER Ob die Briten mehr Zeit beantragen wollen, ist die Entscheidung der Briten. Würden sie dies tun, gäbe es niemanden in Europa, der sich dagegen wehren würde. Sie fragen, um wie lange man den Austritt verschieben kann? Da habe ich keine Zeitvorstellung. Beim Brexit sind schon so viele Zeitpläne über den Haufen geworfen worden. Ich kann mir aber nur schwer vorstellen, dass die Briten noch einmal zur Europawahl schreiten. Dies hielte ich für einen Treppenwitz der Geschichte. Aber ausschließen kann ich auch das nicht. In Sachen Brexit ist es wie vor Gericht und auf hoher See: Man ist in Gottes Hand. Und immer ist es ungewiss, wann Gott richtig zugreift.

Trump ist unberechenbar, halten Sie sein Wort bei den Autozöllen für belastbar?

JUNCKER Trump hat mir sein Wort gegeben, dass es vorerst keine Autozölle gibt. Ich halte diese Zusage für belastbar. Klar ist, sollte er sein Wort brechen, werden wir uns an unsere Zusagen, mehr US-Soja und Flüssiggas zu kaufen, auch nicht mehr gebunden fühlen. Ich würde dies aber sehr bedauern.

In vielen deutschen Städten gibt es Unmut über Fahrverbote wegen schlechter Luft. Halten Sie es für sinnvoll, jetzt eine Debatte über Grenzwerte und Messstellen zu führen?

JUNCKER Die Grenzwerte sind so wie sie sind – festgelegt durch eine Entscheidung der Mitgliedstaaten, inklusive Deutschlands, und des Europaparlaments. Als Präsident der Kommission habe ich nicht vor, eine Debatte über die lokalen Messstellen zu führen. Das müssen schon die deutschen Behörden vor Ort tun. Es ist im Übrigen auch nicht Sache oder Kompetenz der Kommission, Fahrverbote zu verhängen. Ob es Fahrverbote gibt oder nicht, das wird allein in Berlin und Stuttgart entscheiden, aber nicht in Brüssel. Ich persönlich würde mir wünschen, dass die sozialen Folgen solcher Entscheidungen stärker berücksichtigt werden. Die Wahl der Instrumente, um die festgelegten Luftqualitätswerte zu erreichen, liegt allein bei den Mitgliedstaaten. Man nimmt die EU für vieles in Haft, womit wir nichts zu tun haben. Alle Schuld immer auf Europa abzuladen, das ist ein Spiel, das wir seit Jahrzehnten kennen, und bei dem ich nicht mitspiele.

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