Jahresrückblick Innenpolitik Rasender Stillstand und neue Gesichter

Das turbulente Jahr wirft viele Spitzenpolitiker aus der Kurve. Die Regierung steckt in der Dauerkrise. Angela Merkel wankt, aber sie bleibt. Auch dank des Erfolgs ihrer Vertrauten Annegret Kramp-Karrenbauer.

Erfolgreiches Ende einer riskanten Fahrt: Annegret Kramp-Karrenbauer hat nach der Wahl zur CDU-Chefin Tränen in den Augen. Angela Merkel applaudiert.

Erfolgreiches Ende einer riskanten Fahrt: Annegret Kramp-Karrenbauer hat nach der Wahl zur CDU-Chefin Tränen in den Augen. Angela Merkel applaudiert.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Es ist 4.22 Uhr morgens auf der A 10 bei Potsdam. Die Limousine rauscht seit fünf Stunden durch die Nacht. Eine Baustelle, ein Lkw, ein Schlag, Gurte spannen sich ruckartig, Airbags lösen aus. Mit Wucht wirft es die Insassen nach vorne. Auf dem Rücksitz: Annegret Kramp-Karrenbauer, Ministerpräsidentin des Saarlandes. Nach 23 Uhr ist sie in Saarbrücken aufgebrochen von ihrem eigenen Neujahrsempfang. 725 Kilometer nach Berlin, Sondierungen mit der SPD. Eine Frau auf der Überholspur – gebremst in voller Fahrt. Auftakt eines Jahres mit rasendem Tempo, das viele Große der Bundespolitik aus der Kurve trägt und neue Figuren an die Spitze bringt. Eine ist Kramp-Karrenbauer.

Die Saarländerin erlebt das Sondierungsende in der Klinik. Die Sozialdemokraten, die sich direkt nach der verpatzten Bundestagswahl nach Opposition sehnen, folgen am Ende doch zögernd ihrem staatstragenden Impuls. Kevin Kühnert, der eloquente Juso-Chef, ist Held der Groko-Gegner. Doch die Verhandler von Union und SPD machen es diesen schwer. Mit der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, mehr Geld für Bildung und Schulen, der Verbesserung der Pflege sind SPD-Herzensanliegen im Paket.

Die Einigung auf eine neue Groko kostet dennoch zwei Männer ihre Karriere: Erst versagen Andrea Nahles und Parteichef Martin Schulz dessen Vorgänger Sigmar Gabriel den Verbleib im Außenministerium. Dann muss Schulz einsehen, dass sein Versuch, sich selbst dieses Amt zu sichern, die Zustimmung zum ganzen Groko-Projekt durch die SPD-Mitglieder gefährdet. Sein Verzicht auf Ministeramt und Parteivorsitz löst die Blockade: In der Befragung der über 460 000 SPD-Mitglieder sagen 66 Prozent Ja zur Groko.

Mitte März wählt der Bundestag Angela Merkel (CDU) wieder zur Kanzlerin. Im Kabinett vertraute Gesichter in neuen Rollen: Das Außenministerium fällt Heiko Maas in den Schoß, Merkels Strippenzieher Peter Altmaier wird Wirtschaftsminister. Es scheint, dass für die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer kein Platz in Berlin ist. Doch der Rückzug des schwer erkrankten CDU-Generalsekretärs Peter Tauber macht ein gewagtes Manöver möglich. Kramp-Karrenbauer verzichtet auf ihr Ministerpräsidentenamt, lässt sich vom CDU-Parteitag umjubelt zur Nachfolgerin wählen. Ein Schritt, der ihr das Erbe Merkels an der Parteispitze sichern kann. Zumal sie als Generalsekretärin in einer „Zuhörtour“ Kontakt zu Zehntausenden CDU-Mitgliedern bekommt.

Schulz weg. Gabriel weg. Auch Horst Seehofer verliert das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten an Markus Söder, kündigt später auch den Rückzug als Parteichef an. Cem Özdemir und Simone Peter treten bei den Grünen ins zweite Glied. Die neuen Stars sind Annalena Baerbock und Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck, die die Grünen zeitweise an Platz zwei in den Umfragen führen. Das sinkende Schiff der SPD übernimmt Andrea Nahles.

Neue Köpfe, alte Regierung: Doch das Land kommt nicht zur Ruhe. Die Nadelstiche der Groko-Gegner in der SPD, vor allem aber das Erscheinungsbild der Koalition, halten das Land im Krisenmodus. Es beginnt im Sommer mit dem Krieg um den Plan des neuen Innenministers Horst Seehofer, Asylbewerber, die woanders in der EU registriert wurden, zurückzuweisen. Merkel blockt, Seehofer droht. Fast kommt es zum Bruch der Union von CDU und CSU. Das traurige Spiel findet eine Fortsetzung, als in Chemnitz bei Protesten nach dem Mord an einem Deutsch-Kubaner Rechtsradikale den Ton angeben. Der Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen korrigiert ungefragt Merkels Sprecher, der von Hetzjagden auf Ausländer spricht. Die SPD fordert Maaßens Entlassung, Seehofer mauert. Der Kompromiss, Maaßen zum besser bezahlten Staatssekretär zu machen, fliegt Nahles, Merkel und Seehofer um die Ohren. Bis Maaßen am Ende doch ganz gehen muss, ist die Reputation der Koalition im Keller. Die Politik fährt hochtourig, doch der Eindruck rasenden Stillstands bleibt.

Dass die Bayern ihre CSU bei der Landtagswahl abstrafen und sie nur mit Freien Wählern weiterregieren kann, die CDU in Hessen dramatisch verliert und die SPD bei beiden Fällen nicht mal den zweiten Platz schafft – es zeigt den Überdruss am Groko-Gezerre und auch eine Merkel-Dämmerung. Die treibt auch die CDU um. Zumal die Wahlerfolge der AfD sie nervös machen.

Am Tag nach der Hessenwahl zieht Merkel die Reißleine. Ihre Ankündigung, Kanzlerin bleiben zu wollen, aber im Dezember nicht mehr für den Parteivorsitz zu kandidieren, überrascht wohl alle. Den nächsten Paukenschlag liefert Friedrich Merz, der – einst von Merkel verdrängt und seit Jahren außerhalb der Spitzenpolitik – seine Kandidatur via Medien ankündigt. Sie wird auch als Griff nach dem Kanzleramt verstanden. Kramp-Karrenbauer und der ehrgeizige Jens Spahn reagieren schnell, werfen ihren Hut in den Ring. Ein historischer Dreikampf beginnt.

Acht Regionalkonferenzen, zahllose Interviews, die CDU ist wie elektrisiert. Einige, vor allem im Mittelstand, die seit Jahren den Kurs der CDU kritisieren, sehen in dem als Multi-Aufsichtsrat zu Geld gekommenen Wirtschaftsanwalt Merz den Retter. Doch so gewandt sein Auftreten: Beim Parteitag in Hamburg bleibt er blass, Kramp-Karrenbauer dagegen vermag mit einer sympathischen Rede jene wenigen Delegierten zu gewinnen, die vorher noch nicht entschieden waren. Im zweiten Wahlgang wird sie mit 517 zu 482 Stimmen gegen Merz zur CDU-Chefin gewählt. Am Ende eines rasenden Jahres ist die Merkel-Vertraute wieder auf der Überholspur. Wohl auch, weil die Mehrheit der Delegierten nicht wollte, dass am Ende auch die Kanzlerin selbst unter die Räder kommt.

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