Großbritannien Überlebenspakete für den Brexit-Notfall

London · Noch immer hat sich das britische Parlament auf kein Austrittsabkommen mit der EU geeinigt. Ohne Deal könnten Lebensmittel und Medikamente knapp werden.

 Hester Tingey packt ein Brexit-Notfall-Paket mit Lebensmitteln.

Hester Tingey packt ein Brexit-Notfall-Paket mit Lebensmitteln.

Foto: Katrin Pribyl

Begonnen hat die ganze Geschichte irgendwie als Spaß. Nur, mittlerweile hat dieser Spaß das gesamte Wohnzimmer der Familie Tingey übernommen. Braune Kartons stehen in dem holzgetäfelten Raum des Hauses im englischen Bishop’s Stortford herum, Klebebänder und Etiketten verteilen sich auf den Stühlen, die als Ablagen dienen. Unter einem großen Spiegel türmen sich in einem Regal wie in einem Tante-Emma-Laden die Keks- und Müslipackungen; Nudeln und Reis stapeln sich genauso wie Dosen voller Bohnen, eingelegten Früchten und Thunfisch.

Hester Tingey schnappt sich eine Packung Kaffee aus dem Regal, passierte Tomaten sowie fünf Sardinen-Dosen und packt die Lebensmittel in eine große Box, die vor ihr auf einem großen Holztisch steht und jetzt schon fast überquillt. „Wir wollen nicht, dass den Menschen nach dem Brexit elend zumute ist, sondern dass sie glücklich sind“, sagt die 52-Jährige und zeigt auf Schokoriegel, die ebenfalls in die Box gehören. Es ist der Klassiker des Angebots: das Brexit-Überlebenspaket. 100 Pfund kostet die Ration, die zwei Erwachsene und zwei Kinder eine Woche ernähren können. Sie soll insbesondere jenen Teil der Briten beruhigen, die sich „Preppers“ nennen – Menschen, die für die schlimmsten Szenarien vorbereitet sein wollen. Sie machen nur eine Minderheit auf der Insel aus, blicken aber voller Sorge auf den 29. März 2019.

Dann tritt das Königreich offiziell aus der EU aus. Und auch wenige Wochen vor der Scheidung stößt der von London und Brüssel ausgehandelte Deal auf massiven Widerstand im Parlament. Premierministerin Theresa May scheint auf Zeit zu spielen, während bei vielen Briten die Unruhe wächst. Gestern Abend lehnte das Unterhaus erneut Mays Verhandlungspläne zum Brexit mit 303 zu 258 Stimmen ab. Sie wollte damit mehr Zeit für weitere Gespräche mit der EU gewinnen.

Falls es tatsächlich zu einem chaotischen Austritt ohne Abkommen kommen sollte, gehen die Behörden davon aus, dass die Kontrolle der Lastwagen zu langen Verzögerungen am wichtigsten Fährhafen in Dover führen würden, die kurzfristig Engpässe in Apotheken und Supermärkten entstehen lassen könnten. Ein Drittel der Produkte stamme aus der EU, weshalb bei einem ungeordneten Ausscheiden des Landes die Verfügbarkeit vieler Waren verringert sein werde, warnten kürzlich die Chefs führender Supermärkte und Restaurantketten.

„Es schadet nicht, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.“ So fasst es Hester Tingey zusammen. Mittlerweile offerieren sie und ihr Mann Fred neben dem Klassiker eine Box für Veganer, für Hunde, für Katzen, eine Kiste mit Überlebensutensilien wie Streichhölzern, Aluminiumdecken oder Batterien sowie das sogenannte Geschenkpaket, das aus Lebensmitteln aus Europa besteht, „die nach dem Brexit vielleicht schwerer erhältlich sind“, sagt Tingey. Deutsches Brot, französischer Wein, italienischer Kaffee – ganz offensichtlich die Gourmet-Version. In der Küche nebenan sitzt die 24-jährige Tochter Tabby. Ihre persönlichen Überlebenspakete lagert sie in Form einer Monatsration Insulin im Kühlschrank. Die Yoga-Lehrerin hat Diabetes Typ 1, ihre Medikamente werden vom Kontinent importiert.

Obwohl das britische Gesundheitsministerium seit Monaten versucht, Betroffene zu besänftigen und Hamsterkäufe zu verhindern, horten zunehmend Briten ihre Medikamente. Die Regierung habe große Anstrengungen unternommen und „einiges an Steuergeldern investiert“, damit die Menschen an ihre Arzneimittel kämen, betonte Gesundheitsminister Matt Hancock. Dennoch, der Medizinerverband Royal College of Physicians fordert mehr Transparenz bei den Notfallplänen der Regierung. Im Moment sei es nicht möglich, „Patienten zu versichern, dass ihre Versorgung durch den EU-Austritt nicht negativ beeinflusst wird“, kritisiert Andrew Goddard, Präsident des Verbandes in London. Es gebe „erhebliche Bedenken“.

Seit drei Wochen packen die Tingeys in ihrer Freizeit mit Hilfe von Freunden und Freiwilligen die Lebensmittelboxen. „Das Interesse geht durch die Decke“, sagt Hester Tingey. Doch auch hasserfüllte Reaktionen nehmen zu. Insbesondere in den sozialen Medien werfen ihnen Kritiker Panikmache vor und dass sie mit den Ängsten anderer Profit machen würden. „Dabei wollen wir nur helfen“, sagt Tingey.

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