„In der Gruppe lernen Kinder Kontrolle“

Ritalin galt lange als Allheilmittel bei impulsiven, zappeligen Kindern. Das scheint sich zu ändern. Über die Gründe sprach SZ-Redakteur Jörg Wingertszahn mit dem Chef des Verbandes der Kinderärzte im Saarland, Karl Stiller.

Herr Stiller, wie kommt es, dass weniger Ritalin verordnet wird?

Stiller: Durch bessere Diagnostik und die Zusammenarbeit mit Psychologen. ADHS kann man nicht nur mit Medikamenten beherrschen. Eine Zeit lang gab es eine richtige Euphorie, was Ritalin angeht, und da war man mit der Verordnung großzügig - bis man gemerkt hat, so einfach ist es nicht.

Dann hat man zu schnell Ritalin verschrieben?

Stiller: Nicht in dem Sinne, dass man Fehler gemacht hätte. Man hat erkannt, dass es manchmal auch ohne und anders geht.

Welche Gründe gab es noch für den Anstieg bei Ritalin?

Stiller: Das hat auch mit dem gesellschaftlichen Druck zu tun. ADHS-Kinder gab es immer, aber die Gesellschaft hat sich gewandelt. Zum einen ist heutzutage die Mutter oft nicht mehr zu Hause, sondern muss mit verdienen. Zum anderen wachsen Kinder heute häufiger allein auf und müssen zu ihren Spielkameraden gebracht werden. Die sind als Bezugspunkte aber äußerst wichtig. In der Gruppe lernen die ADHS-Kinder soziale Kontrolle.

Ist ADHS im Saarland ein besonderes Problem?

Stiller: Nein, wir liegen da im Schnitt aller Länder. Das zieht sich durch alle Schichten. ADHS-Kinder finden wir sowohl bei Akademikern als auch bei sozial schwachen Familien.

Wächst sich die Krankheit aus?

Stiller: Durchaus, ich plädiere aber dafür, die Vorsorgelücke zu schließen. Wir sehen die Kinder bei den Vorsorgeuntersuchungen nur bis zum fünften Lebensjahr und dann die meisten erst wieder mit 13. In dieser Zeit entscheidet sich, ob aus einem hyperaktiven Kind ein ADHS-Kind wird.

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