Hirn-Doping gegen den Stress im JobAtmosphäre am Arbeitsplatz spielt Schlüsselrolle

Berlin. Noch ist es ein Randphänomen. Doch Experten fürchten: "Hirn-Doping" wird auch in Deutschland verstärkt um sich greifen. Schon jetzt schlucken rund 800 000 Beschäftigte täglich oder mehrmals in der Woche verschreibungspflichtige Arzneimittel, um sich im Job gegen Stress und Ängste zu wappnen, um ihre Konzentration zu steigern oder um länger arbeiten zu können

Berlin. Noch ist es ein Randphänomen. Doch Experten fürchten: "Hirn-Doping" wird auch in Deutschland verstärkt um sich greifen. Schon jetzt schlucken rund 800 000 Beschäftigte täglich oder mehrmals in der Woche verschreibungspflichtige Arzneimittel, um sich im Job gegen Stress und Ängste zu wappnen, um ihre Konzentration zu steigern oder um länger arbeiten zu können.In einer Umfrage der DAK sagten fünf Prozent der Befragten, sie hätten schon einmal mit Medikamenten nachgeholfen, um ihre Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz zu steigern. Hochgerechnet sind das immerhin zwei Millionen Menschen. Jeder fünfte Befragte hält die Risiken der Medikamenteneinnahme vertretbar im Vergleich zu ihrem Nutzen. "Das ist für uns ein Alarmsignal", sagt der DAK-Vorstandschef Herbert Rebscher, der gestern in Berlin die Studie vorstellte. Es bestehe die Gefahr, "dass wenigstens ein Teil der Menschen in dieselbe Dopingfalle tappt wie Sportler, die sich für einen Wettkampf fit machen". Denn auf lange Sicht bestehe bei den Medikamenten ein hohes Nebenwirkungs- und Suchtpotenzial. Bei der DAK-Studie ging es den Forschern ausdrücklich nicht um "Alltagsdoping" mit Kaffee, Zigaretten oder Vitaminpillen. Im Fokus standen Medikamente, die normalerweise bei ernsten Erkrankungen verschrieben werden wie Alzheimer, Demenz, dem Zappelphilippsyndrom ADHS, Herzinsuffizienz oder Depressionen. Welche Langzeitwirkung diese Mittel auf Gesunde haben, ist noch nicht erforscht. Und auch zu den akuten Nebenwirkungen bei Gesunden kann die Forschung offenbar noch wenig sagen, wie Isabella Heuser, Leiterin der Klinik für Psychiatrie an der Berliner Charité, einräumt. In der Umfrage sagte jeder Fünfte, ihm sei schon mal die Einnahme von leistungs- und konzentrationssteigernden Medikamenten empfohlen worden. Bei jedem zweiten waren es Freunde, Verwandte oder Kollegen, die den Tipp gaben, bei jedem dritten ein Arzt. Die DAK analysierte daraufhin die Arzneimitteldaten ihrer Mitglieder: Sie verglich, wie oft bestimmte Antidepressiva, Mittel gegen Demenz und ADHS und Betablocker verschrieben wurden, ohne dass der Arzt die Krankheit, auf die der jeweilige Wirkstoff zugelassen ist, diagnostiziert hatte. Bisher betreiben nur ein bis zwei Prozent der Deutschen "Hirn-Doping". Doch ihre Zahl wird nach Expertenmeinung zunehmen. "Es ist zu beobachten, dass es hier eine gewisse Aufgeschlossenheit gibt", sagt Hans-Dieter Nolting, Geschäftsführer des IGES-Instituts, das die Studie für die DAK erstellte. Viele Berufstätige hätten inzwischen den Eindruck, "in der 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft stets fit und leistungsfähig" sein zu müssen. Der Psychologe Frank Meiners, der an der DAK-Studie mitarbeitete, hält die Wirkung der Medikamente letztlich für überschätzt. Die Arzneien seien oft gar nicht so leistungssteigernd wie erwartet, sagt er. "Auf Dauer werden Doper jedoch richtig krank. Der Körper steigt aus - und das ist nicht mehr im Sinne des Arbeitgebers", sagte Meiners in einem Interview mit "sueddeutsche.de".Die Krankschreibungen sind laut DAK insgesamt leicht auf 3,3 Prozent gestiegen (2007: 2,2 Prozent). Demnach fehlte ein Versicherter im Vorjahr durchschnittlich 11,9 Tage am Arbeitsplatz. In den neuen Ländern lag der Krankenstand mit 3,9 Prozent weiter deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Der Studie der DAK zufolge nehmen fünf Prozent der Arbeitnehmer regelmäßig Medikamente, ohne medizinischen Grund. Können Sie diese Ergebnisse aus der klinischen Praxis bestätigen?Baumeister: Es ist durchaus schlüssig, dass Menschen zur Leistungssteigerung - als Gehirndoping - Medikamente nehmen. Das sind oftmals Antidepressiva, es können aber auch Betablocker sein, die beruhigende Wirkung haben.Was sind die Gründe dafür?Baumeister: Da ist zum einen der erhöhte Leistungsdruck, andererseits ist auch die Angst um den Arbeitsplatz ein wesentlicher Faktor. Und was nicht unterschätzt werden darf, ist die Atmosphäre am Arbeitsplatz: Geht man kollegial und respektvoll miteinander um, oder ist man despektierlich? Gleichzeitig muss man sagen, dass die Werbung im Sinne der Lifestyle-Medikation eine Rolle spielt. Es wird suggeriert: Du musst funktionieren, und wenn das nicht geht, musst du nur die richtigen Pillen schlucken.Welche Berufsgruppen am häufigsten betroffen?Baumeister: Es sind weniger handwerkliche Berufe, sondern eher der Dienstleistungsbereich. Gerade im öffentlichen Bereich und im Gesundheitswesen kommt es vielfach vor, dass hierarchisch Druck ausgeübt wird, und Menschen in psychische Notlagen geraten.Was kann der Einzelne tun, um sich vom Leistungsdruck zu befreien?Baumeister: Sinnvoll ist es, eine Situation selbst zu bewerten und zu fragen: Was könnte mir am Arbeitsplatz wirklich passieren? Wenn Menschen dazu neigen, dass Glas immer halb leer zu sehen, nimmt der innere Stress zu. Häufig werten sich die Betroffenen selbst zusätzlich ab, sodass das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten abnimmt und er Gefahr läuft, eine bisher gelungene Arbeit nicht mehr zu bewältigen. Meinung

Ein Land auf Droge?

Von SZ-RedakteurThomas Schäfer Was war das Geschrei groß, als vor Jahren immer neue Doping-Skandale vor allem den Radsport erschütterten. Alle Welt zeigte mit dem Finger auf die bösen, verantwortungslosen Männer, die nicht nur ihren Sport kaputt machen, sondern unseren Kindern ein schlechtes Vorbild sind. Dabei war die öffentliche Empörung von Beginn an auch ein Stück scheinheilig. Nicht nur Profis dopen, auch Hobbysportler tun es, die feiernde Jugend auch, die alleingelassene Ehefrau, Studenten, Rentner, Arbeitslose - mit Alkohol, Nikotin und (meist) legalen Medikamenten. Selbst im Bett ist der Leistungsdruck inzwischen für viele so groß, dass sie zu blauen Pillen greifen. Überrascht es da wirklich, dass Drogen auch am Arbeitsplatz auf dem Vormarsch sind? Wohl kaum. Das Gefährliche aber ist: Anders als im Sport gibt es im wirklichen Leben keine Doping-Kontrollen. Jeder muss selbst auf sich aufpassen und ganz allein entscheiden, welchen Preis er für den Erfolg zu zahlen bereit ist.

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