Stalingrad „Hatte heute schon viel Glück in der Hölle von Stalingrad“

Saarbrücken · Warum der gebürtige Bildstocker Josef Schmitt die Feldpostbriefe seines Vaters veröffentlichte.

 Josef Schmitt trug mehr als 400 Feldpostbriefe seines Vaters in einem Buch zusammen, das er hier in den Händen hält.

Josef Schmitt trug mehr als 400 Feldpostbriefe seines Vaters in einem Buch zusammen, das er hier in den Händen hält.

Foto: Stefan Rossmann

„Bin noch am Leben.“ Wie wird ein solcher Satz aufgenommen von einer jungen Ehefrau, die diese Zeile als Lebenszeichen ihres Mannes von der Ostfront erhält? Mit Erleichterung? Oder eher mit Erschrecken, weil diese Worte doch gerade die Tuchfühlung mit dem Tod bezeugen? Und weil sie an der Gewissheit einer gemeinsamen Zukunft rütteln, an die man zuvor so selbstverständlich, so unverbrüchlich glaubte? Mindestens drei Mal erhält Susanna Schmitt aus Bildstock Feldpostbriefe ihres Mannes Joseph mit diesem Satz – immer dann, wenn er einer tödlichen Gefahr entronnen war.

Mehr als 700 Briefe sandte der Gefreite Joseph Schmitt in den Jahren 1941 bis 1945 unter anderem von der Ostfront an seine „allerliebste Susi“ daheim. Als der studierte Theologe – damals zum zweiten Mal – einberufen wird, ist er 32 Jahre alt und anderthalb Jahre verheiratet. Nach einem Fronteinsatz bei der Schlacht von Charkiw (Mai 1942) wird er wenige Monate später auch in Stalingrad eingesetzt – und verwundet. Von dort schreibt er am 27. November 1942:

„Hatte heute schon viel Glück, mitten in der Hölle von Stalingrad. 2 m vor mir eine Granate, ich wollte eine freie Fläche überqueren, hat mir einige kleine Splitter im Gesicht und eine Schramme am Arm, das Kochgeschirr durchlöchert. (...) Bomber, Bomben, Explosionen, Trümmer, Ruinen, Brände, Tote und Verwundete. Am 24. (...) starben mir zwei Kameraden in den Händen, einer 29 Jahre alt (...)“.

Schmitts Briefe nach Hause schildern nicht nur den Einsatz an der Front, sie geben vielmehr ein vielfältiges Spektrum an persönlichen Eindrücken vom Kriegseinsatz – auch vom Transport dorthin, von Landschaften, von Menschen in Armut, wie etwa im polnischen Krakau (31. März 1942): „Die Häuser liegen vereinzelt, einstöckig, mit Strohdächern, dreckig und halb verfallen. Die Leute entsprechend. Die Kinder barfuß und zerfetzt, stehen Spalier und betteln um Brot (...) Der Hauptbahnhof dieser Stadt ist ein erbärmliches Gebäude, eine Überdachung des Bahnhofs gibt es nicht, sonst alles dreckig wie das übrige Land (...).“ Ein Stück NS-geprägter Geisteshaltung schimmert hier durch, für die „mein Vater offensichtlich nicht ganz unempfänglich war“, wie sein Sohn später feststellt. Ginge es nach dem ehemaligen Gefreiten Joseph ­Schmitt, so wären seine Schilderungen heute wohl dem Vergessen preisgegeben. Mit seiner Frau Susanna hatte er eigentlich vereinbart, dass der überlebende Ehepartner sie eines Tages vernichten sollte. Sohn Josef und Tochter Mathilde jedoch konnten ihre Mutter, die 1987 zwei Jahre nach ihrem Mann starb, davon überzeugen, die Feldpost als Zeitzeugnis aufzubewahren.

Josef Schmitt Junior, 1943 in Bildstock geboren und heute im bayerischen Glonn lebend, gab 2016 mehr als 400 Briefe seines Vaters zusammen mit Skizzen und Fotos als Buch heraus. Was ihn dazu bewogen hat? „Ich mache das natürlich nicht zur Verherrlichung der Wehrmacht“, erklärt er. Sondern um ein Beispiel zu geben, „wie eigentlich vernünftige Leute geistig auf das Nazi-Regime eingestiegen sind, sich verleiten ließen, da mitzumachen“. Einen Beitrag zur Pflege der Erinnerungskultur nennt er seine Arbeit auch, denn „wir haben das Kapitel Zweiter Weltkrieg und den Überfall auf Osteuropa noch längst nicht verarbeitet“.

Jeden Brief seines Vaters, der 1945 als Kriegsinvalide nach Bildstock zurückkam, schrieb Schmitt Wort für Wort ab – fast als sei es ein Stück Sühne. In einem schriftlichen Beitrag zum Buch bekennt der Maschinenbauingenieur und ehemalige Laborleiter an der Bundeswehr-Universität in München, wie schwer die psychische Last wog. „Ich musste allen Mut aufbringen, um das Projekt durchzuführen.“ Schmitt spricht von einem Trauma, von einem Aufreißen von Narben, „die durch jahrzehntelanges Schweigen verkrustet waren“. Und er erklärt seine Arbeit als eine Art Geschichtsschreibung „von unten“: „Mit der Veröffentlichung der Feldpostbriefe eines Gefreiten aus dem Schützengraben an der Ostfront“, schreibt er, „will ich die Alltagssituation der niederen Dienstgrade verstehen lernen und mir Klarheit verschaffen über das Ausmaß etwaiger persönlicher Schuld dieser Soldaten.“ Die Menschen in Osteuropa bittet er dabei um Versöhnung und um Verzeihung „für die ihnen an Leib und Seele von uns zugefügten Schäden“.

Hätte ein Schweigenbrechen des Vaters noch zu Lebzeiten auch dem Sohn ein Stück Erlösung vom Trauma bringen können? Hätte Schmitt Junior womöglich später Abstand davon genommen, fieberhaft Zeile um Zeile der Korrespondenz zu durchforsten, um irgendwo wenigstens ein kleines Zeichen des Widerstands gegenüber dem NS-Regime zu entdecken, wie er es sich so sehr erhofft hatte? Schmitt fand es nicht, war maßlos enttäuscht von dem geliebten Vater und gläubigen Katholiken. Das konnte auch der Umstand nicht ändern, dass die Briefe damals einer strengen Zensur unterlagen. „Mein Vater ist sicherlich kein großer Nazi gewesen, aber er hat sich eben auch nicht distanziert“, sagt Schmitt. Schuldgefühle – die habe es sicherlich gegeben, ist er überzeugt, aber mehr im Stillen.

Josef Schmitt sieht seine Arbeit noch längst nicht beendet. Tiefe Sorge bereite ihm, wie er sagt, dass heute mit Rechtspopulismus und „unverblümten Naziparolen wieder Wählerstimmen gefangen und Wahlen gewonnen werden“ können.

 Umschlag eines der mehr als 700 Feldpostbriefe, die Joseph Schmitt zwischen 1941 und 1945 an seine Frau Susanna schrieb.

Umschlag eines der mehr als 700 Feldpostbriefe, die Joseph Schmitt zwischen 1941 und 1945 an seine Frau Susanna schrieb.

Foto: josef schmitt
 Susanna und Joseph Schmitt im Juni 1941 auf ihrer Hochzeitsreise nach Bad Herrenalb – hier auf einem Ausflug nach Freiburg.

Susanna und Joseph Schmitt im Juni 1941 auf ihrer Hochzeitsreise nach Bad Herrenalb – hier auf einem Ausflug nach Freiburg.

 Joseph Schmitt im Lazarett Schwaig­hof am Tegernsee im Januar 1945. Im Dezember kehrte er als Invalide nach Bildstock zurück.

Joseph Schmitt im Lazarett Schwaig­hof am Tegernsee im Januar 1945. Im Dezember kehrte er als Invalide nach Bildstock zurück.

Foto: josef schmitt

„Bin noch am Leben“ von Josef ­Schmitt. Feldpostbriefe des Gefreiten Joseph Schmitt von der Ostfront 1941 bis 1945. Bestelladresse:
Josef-Schmitt@t-online.de

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