Die Kirchen und der Mitgliederschwund Hat es sich in Deutschland bald ausgebetet?

Köln · Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt weiter. Auch im Saarland sterben mehr Gläubige, als getauft werden. Das zwingt zu Einschnitten – aber auch zu Kreativität.

„Nichts ist Gott unmöglich, nicht einmal, dass er die Mitgliederzahlen der Kirchen wieder ansteigen lässt“, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack. „Statistisch gesehen käme das allerdings schon einem Wunder gleich.“ Allein im vergangenen Jahr 2017 haben die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland insgesamt 660 000 Mitglieder verloren. 54 Prozent der deutschen Bevölkerung gehören jetzt noch zu einer der beiden Kirchen. 2005 waren es noch 62 Prozent.

„Unser ganzer Laden wirkt ein wenig überaltert“, muss selbst der Kölner Kardinal Rainer Woelki eingestehen. Und die Jugend? „Die Jugend wird so wenig im Glauben erzogen, wie das in Deutschland in den letzten Jahrzehnten nie der Fall war“, sagt Pollack. Daran können die Kirchen nach übereinstimmender Auffassung von Religionssoziologen wenig ändern. Es ist eben einfach nicht mehr so wie früher, als man ganz selbstverständlich in der Kirche groß wurde. In der pluralistischen Welt des Westens macht die Kirche nur ein Angebot von vielen. Ihre Lehren und Rituale sind vielen Deutschen mittlerweile ebenso fremd wie der Islam oder der Hinduismus.

„Wir können wenig machen“, sagt auch Christian Weyer, Superintendent im evangelischen Kirchenkreis Saar-West. In seinem Kreis ist die Mitgliederzahl von 80 632 im Jahr 2016 auf 79 109 im vergangenen Jahr gesunken – minus 1523. Auch sonst geht es für die Kirchen im Saarland bergab. Mehr als 35 000 Gläubige sind seit Ende 2016 hierzulande entweder verstorben oder aus der Kirche ausgetreten. Das stellt die Gemeinden auch vor finanzielle Herausforderungen. „Es wird mehr Kooperationen geben müssen“, sagt Weyer. Den Teufel will er trotzdem nicht an die Wand malen. Die Kirche könne nach wie vor noch ihrem seelsorgerischen Auftrag gerecht werden. Auch der Trierer Generalvikar Ulrich Graf von Plettenberg sagt: „Das, was abgebildet wird, ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Es gibt eine Vielzahl von Ehrenamtlichen, die in keiner Statistik auftauchen.“ Doch wie lange werden die noch das Fundament Kirche tragen?

Denn die Abkehr von der Kirche bemisst sich nicht nur in sinkenden Mitgliederzahlen: Selbst unter den Mitgliedern geht nur noch jeder Zehnte sonntags in die Kirche. Und trotzdem existieren nach wie vor die engmaschigen Strukturen aus jener Zeit, als die Kirche „praktisch die Partyzentrale im Dorf“ war, wie es kürzlich der frühere Late-Night-Talker Harald Schmidt in Köln ausdrückte. „Das soziale Leben, auch die Begegnung mit dem anderen Geschlecht, das fand alles in der Kirche statt, also im Gemeindehaus.“

Diese Zeit ist wohl für immer vorbei. Man dürfe sich „nicht länger betuppen bei der Wahrnehmung kirchlicher Realitäten“, mahnt Woelki. Die Zusammenlegung von Gemeinden führt immer wieder zu erbitterten Kämpfen. Schließlich geht es um biografische Erinnerungsorte. Hier sind Menschen getauft und getraut worden, hier wollen sie einmal beerdigt werden. Das gibt man nicht so einfach auf. Auch Superintendent Weyer spricht von „Problemen“, die es angesichts von Zusammenlegungen gegeben habe.

Doch die nackten Zahlen zwingen die Kirchen dazu, sich zu verkleinern. Bei den Katholiken kommt noch dazu, dass es fast keinen Priesternachwuchs mehr gibt. Die flächendeckende Versorgung mit sonntäglichen Messfeiern wird deshalb bald Vergangenheit sein.

„Wir verabschieden uns gerade von der eierlegenden Wollmilchsau“, sagt ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Damit ist gemeint, dass eine Gemeinde alles bietet: normale Gottesdienste, Jugendgottesdienste und dazu noch einen guten Kirchenchor. Stattdessen ist Spezialisierung gefragt, der Trend geht zu Schwerpunktgemeinden: Jugendkirchen, Musikkirchen oder solche mit traditioneller lutherischer Messe.

Hängen die Kirchen noch zu sehr an alten Ritualen wie dem sonntäglichen Gottesdienst? „Vielleicht“, antwortet Pollack. „Aber was sollten sie sonst tun? Auch noch die alten Rituale aufgeben? Sie tun ja bereits viel, um die Gottesdienste attraktiver, offener, kürzer und dialogischer zu gestalten.“

Bei der Umstrukturierung ist in den nächsten Jahren Kreativität gefragt. Die Laien – also die ganz normalen Gläubigen – werden dabei zwangsläufig mehr Verantwortung übernehmen müssen. Kardinal Woelki vermisst in diesem Prozess mitunter die Leidenschaft. Doch als Fußballfan schöpft er Hoffnung: „Die bei der WM erfolgreichen Mannschaften zeigen uns, dass ein Neuanfang immer möglich ist.“

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