Geiseldrama Gladbeck und das kollektive Versagen der Journalisten

Frankfurt · Das Geiseldrama von Gladbeck gilt heute noch als Paradebeispiel für kollektives Medienversagen. Bereits zu Beginn des spektakulären Kriminalfalls führt der niedersächsische Privatsender FFN ein Telefongespräch mit den Bankräubern aus der Gladbecker Bank-Filiale und sendet es leicht gekürzt.

 In der Kölner Innenstadt wird der Wagen mit den Entführern von Journalisten umringt. Die Reporter interviewen die Täter und die Geiseln.

In der Kölner Innenstadt wird der Wagen mit den Entführern von Journalisten umringt. Die Reporter interviewen die Täter und die Geiseln.

Foto: dpa/Hartmut Reeh

Zwei Tage später stehen die Kidnapper Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski in der Kölner Fußgängerzone, umlagert von Reportern, und geben Interviews. 

Zu diesem Zeitpunkt ist eine ihrer Geiseln – ein 15-jähriger Junge – bereits nicht mehr am Leben. Degowski hat ihn erschossen. In der Gewalt der Entführer sind nun zwei junge Frauen. Rösner sagt, wenn etwas schief laufe, „sind die Mädchen tot“. Zum Schluss werde er sich dann selbst „das Dingen in den Mund“ stecken – gemeint ist die Pistole, deren Lauf er sich zur Demonstration in den Mund hält. Ein Reporter fragt die Entführer: „Können wir etwas für Sie tun?“ Auch die Geiseln werden befragt.

„Gladbeck war ein Glücksfall für die Journalisten, denn sie konnten live dabei sein“, sagt Hans-Bernd Brosius, Medienwissenschaftler an der Münchner Universität. Anders als beispielsweise ein Flugzeugabsturz sei das Geiseldrama kein abgeschlossenes Ereignis gewesen, als die Berichterstattung einsetzte. „So etwas ruft beim Publikum besonders heftige Reaktionen hervor, alle warten sekündlich auf Neuigkeiten, die Menschen können gar nicht weggucken“, sagt Brosius.

Hartmut Wessler von der Universität Mannheim forscht zu verantwortlicher Terrorismus-Berichterstattung. Diese vermeide eine Identifikation mit dem Täter, erläutert der Medienwissenschaftler. Beim Geiseldrama von Gladbeck sei aber genau das passiert: „An die Namen der Täter kann ich mich bis heute erinnern, bei den Opfern wird es schon schwieriger.“ Es sei menschlich, einen Täter verstehen zu wollen. „Allerdings dürfen Täter durch die Berichterstattung nicht zu Vorbildern werden“, sagt Wessler. Für die heutige Berichterstattung, auch über Terrorismus, ergebe sich noch eine weitere Lehre aus Gladbeck: „Journalisten dürfen nicht in die Tat einschreiten.“

So wie 1988 unter anderen der „Kölner Express“-Reporter Udo Röbel. Er steigt in der Kölner Innenstadt zu Rösner, Degowski und ihren beiden Geiseln ins Auto, um den Geiselnehmern den Weg zur Autobahn zu zeigen.

Der Deutsche Presserat ergänzt nach Gladbeck seinen Pressekodex. Journalisten dürfen sich „nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen“ heißt es seitdem. Die Erfahrungen des Medienversagens bei dem Geiseldrama vor 30 Jahren haben nach Ansicht Presserates fundamental in die journalistische Ethik hineingewirkt. „Täter- und Opferinterviews während laufender Geiselnahmen sind absolutes Tabu“, sagt der Geschäftsführer Lutz Tillmanns. „Wenn sie in seltenen Einzelfällen nach Gladbeck dennoch stattgefunden haben, hat sich die große Mehrheit der Medien kritisch mit den Übertritten auseinandergesetzt und hiervon auch distanziert.“

Medienwissenschaftler Brosius bleibt skeptisch: „Journalismus lernt nicht dazu, er kann sich dem Konkurrenzdruck nicht entziehen.“ Wer die Story zuerst hat, bekommt mehr Leser, mehr Zuschauer, mehr Klicks. Im Zeitalter sozialer Medien wächst der Druck zusätzlich: Nutzer laden auch bei Verbrechen in Echtzeit eine Vielzahl von Bildern und Videos hoch – was die Medien nicht zeigen und berichten, ist bei Facebook, Youtube und Twitter zu haben.

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