100 Tage Regierung in Österreich Für die ÖVP und Kurz geht die Rechnung auf

WIEN Der Plan schien einfach und wirkungsvoll. Jede Woche ein Thema aus dem Koalitionsvertrag bespielen, Gemeinsamkeit demonstrieren, Zeichen der Veränderung setzen. Der im Wahlkampf propagierte „neue Stil“ im Vergleich zur völlig zerstrittenen Vorgänger-Koalition sollte die Bürger gleich zum Auftakt überzeugen. Doch in den ersten 100 Tagen ihrer Regierung las die neue rechtskonservative Regierung Österreichs öfter Schlagzeilen, die nicht ins Drehbuch passten. „Koalition: Einwände unerwünscht“, „Regieren statt agitieren“, titelten Wiener Zeitungen kritisch über Themen und Auftreten der Koalition aus konservativer ÖVP und rechter FPÖ.

So soll das Überwachungspaket, mit dem der Staat verdachtsabhängig die Kommunikation im Internet mittels Spionagesoftware deutlich leichter kontrollieren kann, ohne parlamentarische Begutachtung zum Gesetz werden. Das Kippen des ab Mai geplanten Gastro-Rauchverbots sorgte für hitzige Angriffe der Opposition und viele hämische Kommentare. Eine Durchsuchung beim Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) rückte Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) in den Mittelpunkt des Interesses. Und über allem schwebte der Verdacht, dass FPÖ-Funktionäre immer noch verankert sind im NS-Gedankengut. In zwei Fällen mussten FPÖ-Politiker sich vehement gegen den Eindruck wehren, dass sie sich im judenfeindlichen Umfeld tummeln.

Trotz oder gerade angesichts mancher Wirbel hat die Koalition eisern an ihrer Regel Nummer eins festgehalten: Geschlossenheit und keinen regierungsinternen Streit. Es soll ums große Ganze und nicht mehr um kleine parteitaktische Siege gehen, meint Kanzler Kurz. Der Koalitionspakt lege fest: Mehr Sicherheit, weniger Steuerlast.

Der 31-Jährige, jüngster Regierungschef in Europa, hat seine ersten 100 Tage unfallfrei absolviert. Um den Kritikern seiner Koalition den Wind aus den Segeln zu nehmen, reiste er nach Amtsantritt demonstrativ zuerst zu den EU-Spitzen nach Brüssel. Niemand solle Wien einen anti-europäischen Kurs vorhalten können. In der zweiten Jahreshälfte wird Österreich den EU-Ratsvorsitz übernehmen. Schon jetzt ist klar, dass Kurz Signale zur Budgetdisziplin in Brüssel angesichts des Brexits aussenden wird. Obendrein könne die illegale Migration nach Europa so nicht weitergehen, meint er.

Beim Blick auf die Außenpolitik der Regierung in den ersten 100 Tagen fällt auf, dass Österreichs neue Chefdiplomatin Karin Kneissl eine bemerkenswert souveräne Figur macht. Der 53-jährigen vielsprachigen Nahost-Expertin ist es mit Kompetenz, Charme und alter diplomatischer Schule gelungen, den Dauerstreit zwischen Wien und Istanbul zu entkrampfen. Auf FPÖ-Ticket in die Regierung bestellt, zählt die Parteilose zweifelsohne zu den Gewinnern unter den 15 Neueinsteigern im Kabinett Kurz. Nur der Regierungschef hat Regierungserfahrung. Rückenwind bekommt die Regierung von der Konjunktur, die so gut läuft wie lange nicht mehr.

Zumindest für die ÖVP und Kurz scheinen sich die Erwartungen zu erfüllen. Landtagswahlen in Tirol und Niederösterreich zeigten eine äußerst erfolgreiche ÖVP. In einer Umfrage wird die Arbeit der Regierung erstmals seit März 2009 überwiegend positiv bewertet. Die FPÖ hingegen liegt nur noch bei 22 Prozent, vier Prozentpunkte weniger als bei der Wahl im Oktober 2017.

Auffällig ist: Die Inszenierung hat eine überragende Bedeutung. Die Auftritte der Regierungsmitglieder nach dem wöchentlichen Ministerrat sind im Gegensatz zum freien Gegeneinander in der früheren großen Koalition streng auf Harmonie bedacht. „Der Druck ist enorm, keine Fehler zu machen“, sagt ein Insider der Regierung.

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