Staaten boykottieren Verteilungsschlüssel Europa streitet wieder über Flüchtlingsquoten

Brüssel · Der EU-Ratspräsident erklärt vor dem heutigen Gipfel den Verteilungsschlüssel in Europa für gescheitert – und wird dafür heftig attackiert.

Seit zwei Jahren streiten Ost und West in der EU über die Flüchtlingsumverteilung in Europa. Ein Mehrheitsbeschluss der EU-Innenminister zu verpflichtenden Aufnahmequoten landete sogar vor dem Europäischen Gerichtshof. Beim heutigen EU-Gipfel will der aus Polen stammende Ratspräsident Donald Tusk einen Schlussstrich unter die unliebsame Debatte ziehen. Die EU-Kommission schäumt. Auch Berlin wies Tusks Pläne zurück.

Stein des Anstoßes war ein Treffen der EU-Innenminister am 22. September 2015. Damals war die Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt, Griechenland war völlig überlastet, auch Italien stand massiv unter Druck. Beide Länder forderten von der EU Solidarität. Deutschland, das Hauptziel der damals noch über die Balkanroute weiterziehenden Migranten war, warb für eine Umverteilung auf alle EU-Staaten. Nachdem ein EU-Treffen dazu gescheitert war, drohte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mit einem Mehrheitsbeschluss – für die sonst einvernehmlich entscheidende Innenministerrunde ein Tabubruch.

Die Entscheidung kam zur Überraschung vieler zustande: Ungarn, Tschechien, Rumänien und die Slowakei wurden überstimmt. 120 000 Flüchtlinge sollten über Quoten nach Wirtschaftskraft auf die EU-Staaten verteilt werden. Dass die Entscheidung überhaupt erfolgte, lag auch an der damals noch liberal-konservativen polnischen Regierung, die wider Erwarten mit den Quotenbefürwortern stimmte – dann aber wenige Wochen später abgewählt wurde.

Für die Osteuropäer war der Beschluss ein Schock: Der slowakische Regierungschef Robert Fico sprach von einem „Diktat“, Tschechiens Staatschef Milos Zeman von einem „Fehler“, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban warf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) „moralischen Imperialismus“ vor. Budapest und Bratislava versuchten es mit einer Klage vor dem EU-Gerichtshof, scheiterten aber. Ungarn, Tschechien und Polen finden sich selbst vor dem Kadi wieder. Sie wurden von der EU-Kommission verklagt, weil sie den Beschluss von 2015 nicht umsetzen.

Ärger, Ärger, nichts als Ärger habe die Mehrheitsentscheidung der EU gebracht, argumentieren die Kritiker. Tatsächlich wurden letztlich nur gut 32 000 Flüchtlinge verteilt – weil viele sich hinter der Fundamentalkritik der Osteuropäer versteckten. In diese Kerbe schlug der liberal-konservative polnische Ex-Regierungschef Tusk. In einer an die Staats- und Regierungschefs vor dem Gipfel verschickten Analyse zur bisherigen EU-Flüchtlingspolitik stellt er fest: „Die Frage verpflichtender Quoten hat sich als höchst spaltend erwiesen.“ Der Ansatz habe angesichts der tatsächlichen Lage „unverhältnismäßige Aufmerksamkeit“ bekommen und sei letztlich „unwirksam“ gewesen.

Tusk fragt am Ende die Gipfelteilnehmer, ob Beschlüsse in dem Bereich fortan „auf einvernehmliche Art“ erfolgen sollten. Im Klartext: ob Mehrheitsbeschlüsse ausgeschlossen werden sollten. Mit einem solchen hat de Maizière gerade gedroht. Denn schon seit Monaten wird ohne Ergebnis über die Frage gestritten, ob die EU in ihre Asylrechtsreform einen permanenten Umverteilungsmechanismus einbaut, wenn Hauptankunftsländer überlastet sind. Für Deutschland ist das „essentiell“.

Tusks Plan sei „inakzeptabel“ und „anti-europäisch“, schimpft der griechische Innenkommissar Dimitris Avramopoulos. „Dieses Papier untergräbt einen der Hauptpfeiler des europäischen Projekts: das Prinzip der Solidarität.“ Die Debatte heute Abend könnte heftig werden.

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