Eine Verfassung als Exportschlager

Karlsruhe. Verfassungsfragen sind Machtfragen. Das war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes nach der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten sicherlich bewusst. Dass sie jedoch mit der am 23

Karlsruhe. Verfassungsfragen sind Machtfragen. Das war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes nach der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten sicherlich bewusst. Dass sie jedoch mit der am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Verfassung einer freiheitlichen Grundordnung ein Erfolgsmodell geschaffen hatten, das in den folgenden 60 Jahren zu einem internationalen Exportschlager werden sollte, hätten sie vermutlich nicht zu träumen gewagt.

Vor allem für junge osteuropäische Staaten war und ist die deutsche Verfassung Staatsrechtlern zufolge attraktiv, weil sie in dem Bewusstsein entstand, dass das zarte Pflänzchen Demokratie vor inneren Feinden geschützt werden muss. Der Parlamentarische Rat hatte dazu im Grundgesetz die rechtsprechende Gewalt gestärkt und sie zur Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung bis hin zum Parteienverbot ermächtigt.

Damit wurde das Karlsruher Gericht zum mächtigsten Verfassungsgericht weltweit: Es entscheidet nicht nur in Kompetenz-Streitigkeiten etwa zwischen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat oder zwischen Bund und Ländern, es überprüft auch Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Und es erlaubt jedermann, wegen Grundrechtsverstößen Verfassungsbeschwerde einzulegen.

Doch diese Fülle an richterlicher Macht ging schon damals manchen Politikern zu weit. Die Regierung von Bundeskanzler Konrad Adenauers (CDU), die sich 1952 im Streit mit der SPD um die Wiederbewaffnung von den Verfassungshütern alleingelassen sah, überzog sie deshalb mit nahezu "gewalttätigen Schmähungen", wie der Jurist und Journalist Christian Bommarius in "Das Grundgesetz - Eine Biographie" schreibt. Adenauer sprach damals dem Gericht gar die Kompetenz ab, ein Verfassungsorgan zu sein, das die Verfassung zu schützen habe. Seine Wut gipfelte in dem berühmt gewordenen Satz: "Dat ham wir uns so nich vorjestellt".

Seitdem sahen sich die Verfassungshüter immer wieder Angriffen aus der Politik ausgesetzt. Doch es ist auch seine Standhaftigkeit, mit der das Gericht seinen Ruf erworben hat. Es gilt anderen Ländern als Vorbild staatlicher Organisation und es kooperiert mit den obersten Verfassungsgerichten von über 70 Staaten. Die Geburtswehen und Kinderkrankheiten zählen in Karlsruhe zum Anekdotenschatz. So wurde etwa dem Karlsruher Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier bei einem Besuch in Asien stolz ein Saal voller Monitore präsentiert, die Gerichtsverhandlungen aus allen Instanzen der Region live übertrugen, um damit eine "einheitliche" Rechtsprechung gewährleisten zu können.

Und Erstaunen rief in Karlsruhe die Bitte um Stellungnahme eines Verfassungsgerichts hervor, das per Gesetz von Medien Richtigstellungen verlangen wollte, falls sie Gerichtsurteile "untreugemäß, unvollständig und ungenau" darstellen sollten. Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit, die nicht nur die richterliche Unabhängigkeit und die Pressefreiheit verteidigt, gilt weltweit als vorbildlich.

Und aus aller Welt kommen Richter nach Karlsruhe und sind beeindruckt von der bedeutendsten Verfahrensart am Gericht: der 1951 eingeführten Verfassungsbeschwerde. Damit können sich Bürger gegen alle sogenannten Akte der öffentlichen Gewalt wehren und gegen Gesetze und höchstrichterliche Urteile klagen. Der Anteil der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden liegt aber bei nur etwa zwei Prozent.

Gleichwohl will kaum eine der jungen Nationen dieses Instrument konsequent übernehmen. Kein Wunder: Mit der Verfassungsbeschwerde hauchte Karlsruhe den Grundrechten in den vergangenen 60 Jahren machtvolles Leben ein und brachte laut Bommarius die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse "ein ums andere Mal zum Tanzen".

Hintergrund

Als ausgesprochene Erfolgsgeschichte hat der Bundestag das 60-jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. Das 1949 verabschiedete Grundgesetz habe dafür das entscheidende Fundament gelegt, erklärten Vertreter von Koalition und Opposition gestern in einer Debatte zum Verfassungsjubiläum. SPD, Grüne und Linkspartei sprachen sich dabei dafür aus, das Grundgesetz in einigen Punkten zu verändern. Dies stieß bei Union und FDP auf klare Ablehnung. SPD-Vorsitzender Franz Müntefering verteidigte indes seinen Vorschlag für eine neue gesamtdeutsche Verfassung. dpa

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