Waffenland Amerika Ein Pfarrer kämpft gegen den US-Waffenkult 

New Orleans · Bill Terry listet auf Tafeln an seiner Kirche jedes Waffenopfer von New Orleans auf. Damit will der Pastor seine Landsleute aufrütteln. Reicht das?

Tremé, der Name hat Klang. Denn hier, im ältesten schwarzen Viertel Amerikas, gleich hinterm berühmten French Quarter, liegen die Wurzeln des Jazz. Als David Simon, einer der besten Erzähler des US-Fernsehens, einen Schauplatz suchte, um den schwierigen Neubeginn im sturmverwüsteten New Orleans zu dokumentieren, fiel die Wahl auf Tremé. Stark im Kommen, gleichwohl ursprünglich geblieben, so ungefähr werben die Tourismusvermarkter heute für die Wiege des Jazz. Nur die Tafeln, die Bill Terry an den schmiedeeisernen Zaun vor seiner Kirche gehängt hat, passen nicht ins folkloristische Bild.

Es sind Mahnmale für die Opfer des Schusswaffenwahns, jede um die zwei Meter hoch, eng beschrieben mit den Namen von Getöteten. Ständig fügt Terry, der Pfarrer der St. Anna‘s Episcopal Church, neue Namen hinzu, Namen aus ganz New Orleans. Anfangs ließ er sie eingravieren, aber das dauerte zu lange, zu schnell wurde die Liste länger. Inzwischen schreibt er sie mit dickem, wasserfestem Filzstift auf die Tafeln. Links der Name, daneben das Alter, rechts, wie jemand ums Leben kam. Sam Syson, 17, erschossen.

 Eine Zeit lang habe es so ausgesehen, als bekomme die Stadt die Gewalt in den Griff, sagt Terry. Doch die Zahl der Mordopfer steigt wieder. 2016 lag sie bei 175, der höchste Wert seit 2012. In diesem Jahr wird die Kurve weiter nach oben gehen, fürchtet Terry, der Statistiken eigentlich ablehnt. „Zahlen nehmen den Opfern das Gesicht. Ich will die Namen der Anonymität der Statistik entreißen.“ 175 Tote in einem Jahr, wem gehe das schon unter die Haut? Aber wenn er zum Beispiel den Namen Corey Harris an der Tafel lese, dann gebe es auch eine Geschichte dazu. Corey Harris, 36, erschossen.

 Harris war Drogendealer, er wurde überfallen, als er mit dreitausend Dollar in der Tasche unterwegs zu einer Bank war, um die Miete, Strom, Telefon zu bezahlen. Vermeintliche Freunde hätten dem Mann eine Falle gestellt, erzählt Terry. Nun versucht er Harris‘ Witwe davon zu überzeugen, dass sie sich kein zweites Mal mit einem Drogenhändler einlassen sollte. „Es geht darum, dass wir den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen, wenigstens in dieser einen Familie.“ Ein Foto von Harris‘ Tochter Darrielle trägt der Geistliche stets bei sich. Wie einen Talisman.

 An jedem Sonntag lesen sie beim Gottesdienst in St. Anna‘s Church die Namen der Toten, nicht nur die der Ermordeten von New Orleans, auch die der US-Polizisten, die in der Woche davor im Dienst ums Leben kamen, egal wo. „Ich will nichts im Unklaren lassen. Ich will, dass die Leute dieses Wort hören: erschossen“, sagt Terry. „Tyrone Matthews, 23, erschossen.“ Einmal im Monat marschieren sie mit Rosen zum Hauptquartier der Polizei, eine Rose für jeden Verstorbenen.

 Angefangen hat es im Juli 2005, im Monat vor Hurrikan Katrina. Im Fernsehen liefen die Abendnachrichten, von einer Schießerei war die Rede, Terrys Frau wollte wissen, wo genau es passiert war. „Mach dir keine Sorgen, nicht in unserem Viertel“, erinnert sich der Kirchenmann, habe er geantwortet. „Und in derselben Nacht fielen Schüsse in unserer Straße.“ Wie von Sinnen sei er hinausgerannt, auf einem Parkplatz habe ein junger Mann gelegen, leblos, neben ihm seine schreiende Freundin. Am nächsten Morgen begann Terry, Namen der Opfer der Gewalt in ein Heft einzutragen. Zwei Jahre später hängte er die erste Tafel auf.

 Eine schlichte Gedenkstätte sollte es werden, so schlicht wie das ­Vietnamkriegsmemorial in Washington, wo auch nur Namen auf einer Mauer aus schwarzem Granit stehen. Im Laufe der Zeit wurde daraus eine Art Schrein – für Leute, die wissen, dass sich die Stadt New Orleans sonst kaum für ihre getöteten Söhne, Brüder, Väter interessiert. „Weil die Schüsse Routine sind“, sagt Terry, „und weil sich die meisten damit abgefunden haben“. Einmal, erzählt der Pastor, offenbarte ihm die Mutter eines toten Jungen, sie habe nicht mehr geglaubt, dass außer ihr noch jemand um ihren Sohn trauere. Die Worte hätten ihn aufgewühlt. Im Grunde habe die Frau ja gesagt, dass ihr Sohn in den Augen der Gesellschaft ein Wegwerfartikel gewesen sei. „Aber bitte zeichnen Sie mich jetzt nicht als diesen pazifistischen Prediger, der Waffen in Bausch und Bogen verdammt“, sagt Terry.

Er hasse keine Waffen, besitzt selbst welche. Beispielsweise sechs Schrotflinten, die meisten Erbstücke. Oder eine Smith & Wesson, mit der sein Großvater im Ersten Weltkrieg kämpfte. Vier Jahre diente der Geistliche („Ich bin sehr stolz darauf“) bei der Kriegsmarine. An jedem Thanksgiving-Fest im November geht es zum Tontaubenschießen. Terry läuft zu einer Vitrine in seinem Empfangszimmer und greift sich einen alten Marine-Säbel, grinsend den Piraten spielend. „Ich mag Waffen. Was ich nicht mag, ist die Symbolik, mit der wir sie überladen.“ Waffen zum Freiheitssymbol zu verklären, wie es die Lobbyisten der National Rifle Association tun, das geht dem Pfarrer gegen den Strich. „Wir tun ja so, als wären wir noch immer Cowboys. Als wäre ein jeder von uns ein zweiter John Wayne.“

Freie Bürger, die sich, wenn es denn sein muss, gegen einen Tyrannen zur Wehr setzen. So regelt es der zweite Zusatzartikel der Verfassung, den die Waffennarren zu einem Freibrief für absurde Exzesse umdeuteten. Das mit den freien Bürgern, sagt der 66-Jährige, sei ein zweischneidiges Schwert. Gewiss, der Individualismus sei Amerikas Stärke, ohne ihn wären die großen Sprünge nicht denkbar gewesen, all die Erfindungen und Neugründungen, die das Land zu einer Wirtschaftsmacht werden ließen. Aber die Knarre zum Symbol dieser großen amerikanischen Freiheit zu verklären, das fordert seinen Widerspruch heraus.

 Hoffnung, dass sich so bald etwas ändert, hat er nicht mehr. Schon unter den Demokraten war es schwer, unter den Republikanern, mit Donald Trump im Weißen Haus, werde es noch schwerer. Allein eine mächtige Bürgerbewegung, glaubt Terry, könnte eine Wende bewirken. Eine Bewegung mit ähnlich langem Atem wie ihn die Bürgerrechtler um Martin Luther King hatten. Vielleicht seien seine Tafeln an der Esplanade Avenue ein kleiner Anfang, aber Illusionen mache er sich keine. „Es reicht nicht, dass wir nach einem besonders schockierenden Amoklauf drei Monate lang protestieren. Wir müssen länger durchhalten.“

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