Döner-Mord, Gutmensch, marktkonforme Demokratie
Darmstadt. Sie gehören zum Jahreswechsel wie die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Alljährlich werden im Dezember und in den ersten Wochen des Januar das "Wort des Jahres" und das "Unwort des Jahres" gekürt. Ist die Auswahl gelungen, spiegelt sich in ihnen ein wichtiges Charakteristikum des jeweiligen Jahres. Manchmal wird das Ganze sogar zum Politikum
Darmstadt. Sie gehören zum Jahreswechsel wie die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Alljährlich werden im Dezember und in den ersten Wochen des Januar das "Wort des Jahres" und das "Unwort des Jahres" gekürt. Ist die Auswahl gelungen, spiegelt sich in ihnen ein wichtiges Charakteristikum des jeweiligen Jahres. Manchmal wird das Ganze sogar zum Politikum. Etwa, als die damals zuständige Gesellschaft für deutsche Sprache um den Frankfurter Sprachwissenschaftler Horst Dieter Schlosser einen Begriff von Kanzler Helmut Kohl auf den zweiten Rang der "Unwort"-Liste platzierte: Kohl hatte nämlich im Krisenjahr 1993 davor gewarnt, Deutschland dürfe nicht zum "kollektiven Freizeitpark" verkommen. Im Kanzleramt war man verärgert und beschwerte sich. Und Schlosser nahm seinen Hut und übertrug die Entscheidung über das Unwort an eine unabhängige Jury.Die Auswahl 2011 ist weniger umstritten. Zum "Wort des Jahres" wurde Mitte Dezember der "Stresstest" gekürt, gestern dann folgte die Bekanntgabe des "Unworts des Jahres". Nicht überraschend wurde der Begriff "Döner-Morde" als Bezeichnung für eine rechtsterroristische Mordserie an ausländischen Kleinunternehmern ausgewählt. "Der Ausdruck steht prototypisch dafür, dass die politische Dimension der Mordserie jahrelang verkannt oder willentlich ignoriert wurde", sagte Jury-Sprecherin Nina Janich. Die Opfer würden "in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden".
Prompte Zustimmung zur Wahl kam von türkischer Seite: "Sprache ist nicht unverdächtig; sie ist keine neutrale Abbildung der Welt", sagte der Wissenschaftliche Direktor der Stiftung Zentrum für Türkeistudien, Haci-Halil Uslican. "Nicht Döner, sondern Menschen sind getötet worden", fügte er hinzu. "Deshalb sollten wir wachsam sein gegenüber Tendenzen, die Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion abwerten."
Die Unwort-Jury kritisierte auch die Bezeichnungen "Gutmensch" und "marktkonforme Demokratie". Im ersten Fall werde das Ideal des guten Menschen in hämischer Weise aufgegriffen, "um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren". Es handele sich um einen "Kampfbegriff". Die Wortverbindung "marktkonforme Demokratie" wiederum sei eine "unzulässige Relativierung des Prinzips, demzufolge Demokratie eine absolute Norm ist". Der Begriff stehe für eine "bedenkliche Entwicklung der politischen Kultur", kritisierte das Gremium.
Insgesamt trifft der Index der Unwörter auf wachsendes Interesse. Mit 2420 Einsendungen erhielten die Sprachforscher diesmal so viele Einsendungen wie noch nie. Wer die Liste durchblättert, könnte eine kleine Geschichte der Bundesrepublik schreiben. Unwörter wie "Ich-AG", "Humankapital", "Peanuts" oder "betriebsratsverseucht" spiegeln die Auseinandersetzung um Arbeitnehmerrechte und Neoliberalismus. Begriffe wie "Tätervolk", "Überfremdung", "ausländerfrei" oder "National befreite Zone" verweisen auf die deutsche Vergangenheit und Ausländerfeindlichkeit.
Seit 1991 wird die Rangliste der Unwörter veröffentlicht. Doch es gibt Vorläufer. Dass Sprache das Denken und Handeln beeinflusst, hat vor genau 65 Jahren auch der Sprachwissenschaftler Victor Klemperer betont. In seiner 1947 veröffentlichten Studie "Lingua Tertii Imperii" demaskierte er die Sprache der Nazis, die das Denken durch stumpfe Willenlosigkeit zu ersetzen und damit die "Gefolgschaft" der "Automaten" zu verstärken suchte.