Die Schlacht von Istanbul

Istanbul · Viele Türken haben genug von der Rücksichtslosigkeit der politischen Führung. Jetzt hat sich der Frust erstmals entladen. Nach Massenprotesten gab es über 1700 Festnahmen.

Ein leichter Sommerregen geht auf den Taksim-Platz im Herzen Istanbuls nieder, deshalb haben sich Cansu und Ceylan Kilic auf die überdachten Bänke einer Bushaltestelle gesetzt. Die Schwestern sind aus Ümraniye herübergekommen, aus dem asiatischen Teil der Metropole, und nun warten sie darauf, dass sie bei der nächsten Demonstration gegen die Regierung dabeisein können. "Es ist super", sagt Cansu: "Zum ersten Mal in der türkischen Geschichte gibt es eine spontane Volksbewegung." Eine Bewegung, die dem übermächtigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan die vielleicht empfindlichste Niederlage seines Lebens beigebracht hat. Der 59-Jährige legt viel Wert darauf, als Mann wahrgenommen zu werden, der unermüdlich für das Volk arbeitet - jetzt ist er vom Volk in die Schranken gewiesen worden.

Eine neue Ära für die Türkei hat am Taksim-Platz begonnen, sagen viele an diesem Sonntagmorgen. Die Zeichen der geschlagenen Schlacht sind noch deutlich zu sehen: ausgebrannte Autos, kaputte Scheiben. Überall sind regierungsfeindliche Parolen zu sehen. "Taksim ist der neue Tahrir", steht auf einem Plakat. "Die Glühbirne ist geplatzt", hat jemand auf eine Reklametafel gesprüht - eine Anspielung auf Erdogans Regierungspartei AKP, deren Symbol die Glühbirne ist. Die Polizei lässt sich auf dem Taksim nicht blicken. Nur ein paar Zivilpolizisten schleichen als Späher über den Platz. Die Demonstranten lassen sie in Ruhe.

Nebenan im kleinen Gezi-Park scharen sich ein paar Dutzend Menschen um ihre Lagerfeuer, auf der Staße daneben stehen noch die Barrikaden aus Müll und Eisengeländern. Hier im Gezi-Park hatte alles angefangen. Vor einer Woche hatte ein kleines Häuflein Umweltschützer seine Zelte aufgeschlagen, um die Bäume des Parks vor den Arbeitern der Stadtverwaltung zu schützen. Die Bäume sollten weg, weil auf dem Gelände ein historisches Kasernengebäude wieder errichtet werden sollte, in dem dann vielleicht ein Einkaufszentrum untergebracht wird. Shopping statt Bäume - überall in der Türkei treibt die Erdogan-Regierung ein gigantisches Bauprogramm voran. Erdogan sagt, er modernisiere die Türkei. Die Leute im Gezi-Park sagen, die Regierung betoniere alles zu, ohne die Betroffenen zu fragen.

Bisher kümmerte sich Erdogan nicht um solche Einwände. Noch am Mittwoch erklärte er öffentlich, dass die Demonstranten im Gezi-Park anstellen könnten, was sie wollten: "Unsere Entscheidung ist gefallen." Das würde er heute wohl nicht mehr so sagen. Denn als die Istanbuler Polizei in gewohnt brachialer Manier am Freitagmorgen die Baumschützer mit Wasserwerfern, Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen aus dem Park fegen wollte, da tat sich Unerhörtes. Die Demonstranten erhielten Zulauf von immer mehr Leuten, die empört waren über das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Darauf gab es noch mehr Krawall, Demonstranten wehrten sich mit Steinwürfen. Die Polizei schickte noch mehr Einsatztrupps, doch die Menge leistete Widerstand. Die Beamten schossen ihre Tränengaskartuschen irgendwann gezielt auf Schultern, Arme und Köpfe. Am Freitagabend herrschte Krieg in Istanbul.

Unterdessen sprang der Funke über. In Ankara, Izmir und anderen Städten gingen die Leute ebenfalls auf die Straßen. Insgesamt registrierte das Innenministerium mehr als 90 Kundgebungen in mehr als der Hälfte der 81 Provinzen. Über 1700 Menschen wurden festgenommen, Dutzende verletzt.

In Istanbul gingen die Auseinandersetzungen auch in der Nacht zum Samstag und nach Sonnenaufgang weiter. Erdogan schimpfte zuerst auf die "Extremisten", sprach dann aber auch von übertriebener Polizeigewalt - und ließ schließlich am Samstagnachmittag die Sicherheitskräfte vom Taksim abziehen. "Das Volk hat gesiegt", sagt der 22-jährige Student Samet, der zusammen mit seinem Kumpel Aytek beim Aufstand mitgemacht hat. "Das Volk hat der Regierung gezeigt, wozu es fähig ist, und die Regierung hat klein beigegeben."

Aber woraus nährt sich dieser Widerstandsgeist gegen eine Regierung, die bei der letzten Parlamentswahl fast 50 Prozent einfuhr? Die der Türkei einen nie gekannten Wohlstand gebracht hat? Deren Chef Erdogan der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes ist?

"Wie ein Sultan"

"Es wurde alles einfach zuviel", sagt Aytek. Zuviel Arroganz, zuviel Rücksichtslosigkeit. "Überall gibt es nur noch Verbote. Und Tayyip führt sich auf wie ein Sultan." Die allermeisten Türken nennen Erdogan beim Vornamen, weil er ihnen so vertraut geworden ist seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren.

Kein Wunder, denn Erdogan ist allgegenwärtig. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass er irgendwo irgendetwas einweiht. Er bombardiert die Türkei mit immer neuen Initiativen und Gesetzen. Irgendwann hat Erdogan, der Macher, das Maß überschritten. Aytek zeigt es mit seiner Hand, die er über den Kopf hält. "Es steht uns bis hier", sagt er. "Und dann ist alles explodiert. Die Sache mit den Bäumen war nur der letzte Tropfen."

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