Nach Erdogans Wiederwahl Die neue Türkei – weit rechts und weit weg vom Westen

Istanbul · Der Wahlausgang macht zwar den Weg für Erdogans Alleinherrschaft frei. Allerdings braucht er dafür ausgerechnet Unterstützung von ganz rechts.

Die Türkei bewegt sich. Aber anders als es der Präsident Recep Tayyip Erdogan gehofft hat. Fast zwei von drei Wählern in der Türkei haben am Sonntag eine konservative oder nationalistische Partei gewählt. Im Parlament ist Erdogan nun nicht auf liberale Reformkräfte angewiesen, wie die Opposition es sich vor der Wahl erhofft hatte, sondern auf die Unterstützung der Rechtsnationalisten. Das wird sich auf den Kurs des Landes auswirken, der jetzt noch stärker auf eine türkische Großmachtposition ausgerichtet sein wird. Insbesondere bei notwendigen Wirtschaftsreformen wird das zu Schwierigkeiten für den Präsidenten führen. Die Opposition hat unterdessen ihre eigenen Probleme. Ihre Chefs tauchten am Wahlabend völlig ab und mussten Beschwerden über angebliche Manipulationen kleinlaut zurücknehmen.

Neben der Erdogan-Partei AKP, die trotz Stimmenverlusten immer noch auf 42 Prozent kam, verbuchte die rechtsextreme MHP 11,2 Prozent, während die nationalistische Iyi Parti, eine Abspaltung der MHP, bei 10,4 Prozent landete. Da AKP und MHP als Bündnispartner in die Wahl gegangen waren, wird sich Erdogan künftig vor allem auf die Rechtsaußen-Partei stützen, um sich Mehrheiten im Parlament zu suchen.

Die türkische Journalistin Ceren Kenar wies darauf hin, dass der Rechtsdrall der türkischen Politik nicht erst mit der Wahl begonnen hat. Erdogan habe die Türkei nicht islamistischer, sondern nationalistischer gemacht. Auch das Erlebnis des Putschversuches von 2016 sowie die Konflikte und Krisen in den Nachbarländern Syrien und Irak haben eine Rolle gespielt, meint sie. Zudem ist die säkularistische Oppositionspartei CHP, deren Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince mit einem beherzten Wahlkampf für Schlagzeilen gesorgt hatte, für viele konservative Türken schlicht unwählbar, betonte Kenar: Die CHP steht bei diesen Wählern für die Diskriminierung der frommen Muslime in der Zeit vor Erdogans Regierungsübernahme vor anderthalb Jahrzehnten. Ince gab sich alle Mühe, die CHP als gesamt-türkische Kraft zu präsentieren, musste sich am Ende mit 31 Prozent der Stimmen zufriedengeben. Das überraschend gute Ergebnis der MHP bewahrte Erdogan vor einem von der Opposition dominierten Parlament. Parteichef Devlet Bahceli machte aber klar, dass er seine Partei nicht als bloßen Erfüllungsgehilfen Erdogans sieht, sondern als Kontrollinstanz der Regierungsmacht.

Tatsächlich hat Erdogan sein Idealziel nicht erreicht, sagt Kerem Oktem, Türkei-Experte an der Universität Graz. Die Rolle der MHP sei für den Präsidenten ein „Kratzer am Bild“, sagte Oktem unserer Zeitung. Er sprach von einer „de-facto-Koalition“ zwischen AKP und MHP. Aykan Erdemir von der Denkfabrik FDD in Washington erwartet einen relativ starken Einfluss der MHP auf die Politik Erdogans. Der Präsident werde in der Innen- wie in der Außenpolitik Zugeständnisse an die Ultranationalisten machen müssen, sagte Erdemir. Eine Rückkehr zum Friedensprozess in der Kurdenfrage sei mit der MHP unmöglich.

Bei der Opposition begannen bereits gestern die politischen Aufräumarbeiten. Erdogan-Gegner waren im Wahlkampf erheblich behindert worden; einer der Präsidentschaftskandidaten saß im Gefängnis. Meldungen über angebliche Manipulationen am Wahltag selbst bestätigten sich aber nicht. So erkannte der geschlagene Kandidat Ince zwar seine Niederlage ein. An Erdogan appellierte er aber, der Staatschef solle endlich der Präsident aller Türken und nicht nur der Chef der AKP-Wähler sein.

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