Genua Die Katastrophe von Genua

Genua · Die eingestürzte Morandi-Brücke in der italienischen Hafenstadt hat mindestens 39 Menschen unter sich begraben.

 Die klaffende Lücke ist kein spektakulärer Ausschnitt aus einem Action-Film, sondern traurige Realität: Ein Lkw steht auf der am Vortag eingestürzten Autobahnbrücke bei Genua.

Die klaffende Lücke ist kein spektakulärer Ausschnitt aus einem Action-Film, sondern traurige Realität: Ein Lkw steht auf der am Vortag eingestürzten Autobahnbrücke bei Genua.

Foto: dpa/Luca Zennaro

Der blaue Lkw mit der grünen Plane steht immer noch da. Hoch oben thront er auf den Resten der Brücke. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund mit den in sich zusammengebrochenen Betontrümmern auf. Ein trauriges Fanal für die Katastrophe. Mehr als 39 Menschen sind beim Einsturz der Morandi-Brücke am Dienstagmittag bei Genua gestorben, darunter auch drei Minderjährige.

„Wir stehen hier wahrlich vor einer Katastrophe“, sagt Italiens Verkehrsminister Danilo Toninelli an der Unglücksstelle, wo die Helfer weiter nach Vermissten unter den massiven Betonblöcken suchen. Die Opferzahl könnte weiter steigen. Die Wahrscheinlichkeit, Überlebende zu finden, sinkt mit jeder Minute.

Federica Bornelli war am Vormittag für das Rote Kreuz an der Unglücksstelle. Sie will Hoffnung machen, doch ihre Erschöpfung kann sie nicht verbergen. „Die Arbeit ist in mentaler und psychischer Hinsicht sehr anstrengend“, sagt die junge Frau. Auch wegen der Sicherheitsrisiken ist die Arbeit mühselig, langwierig. Ein einziges Auto zu bergen, habe am Morgen vier bis fünf Stunden gedauert, erzählt sie.

Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbrach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-jährige Fahrer des Lkws einer italienischen Zeitung nach dem Unglück erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht unbedingt trifft. Dass diese Autobahnbrücke in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus, ist kaum als dummer Zufall zu bezeichnen. Luigi bremste, dann sah er, wie vor ihm Dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Auch der Polizei hat er bereits am Dienstag von der Apokalypse erzählt. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsgang ein, stieß dann die Fahrertür auf und rannte gegen die Fahrtrichtung zurück. Der Motor lief noch, Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt. „Ich will mich nicht erinnern“, soll Luigi erzählt haben. „Es schmerzt zu sehr.“

In Italien ist das Unvorstellbare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem sich das halbe Land in Bewegung setzt, um das Mittsommernachtsfest Ferragosto im Kreis der Familie zu feiern, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbrücke bei Genua ein. Auch Urlauber aus Deutschland und Österreich sind in diesen Tagen unterwegs. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt bei Genua auf der A 10 zwischen Flughafen und Hafen. Kaum zu glauben, dass dessen Fahrbahnen nun brüsk in der Luft enden.

Neben den bislang 39 Toten melden die Behörden 16 zum Teil Schwerverletzte, wobei fünf Leichen noch nicht identifiziert werden konnten. Die Feuerwehr sucht mit Suchhunden, obwohl es kaum Hoffnung auf Überlebende gibt. Mehr als 30 Autos und drei Laster sollen wie Spielzeug in die Tiefe gefallen sein und Menschen unter sich begraben haben. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedeltes Industriegebiet.

„Nein“, sagt Oberstaatsanwalt Francesco Cozzi gestern auf die Frage von Journalisten in Genua, ob es sich bei dem Einsturz um ein Schicksalsereignis, eine „fatalità“, handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen Unbekannt. Denn es scheint eindeutig, dass menschliche Nachlässigkeit die 1967 eingeweihte und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat. „Brücken stürzen nicht zufällig ein“, sagt auch der aus Genua stammende italienische Star-Architekt Renzo Piano.

In Rom gehen wöchentlich Busse in Flammen wegen mangelnder Wartung auf, es gibt eine Autobahnbrücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleistet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzgefährdet. Viele von ihnen sind völlig überlastet.

In den letzten Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Wenige Menschen starben, deshalb gab es kaum Schlagzeilen. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Natürlich ist die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt dem enormen Verkehrsaufkommen längst nicht mehr gewachsen. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Liguriens, sondern für Städte insgesamt.

5000 Laster sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal so viel wie vor 30 Jahren. Allein seit Jahresbeginn hat der Verkehr auf der betroffenen Strecke um 18 Prozent zugenommen. Seit Jahren wird über die Empfindlichkeit der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche sahen die Tragödie kommen. Dabei stellt sich die Frage, ob nur die Brücken stabiler werden müssen oder vielleicht auch die Menschen ihr Konzept von Mobilität überdenken sollten.

Nun beginnt die Jagd nach den Schuldigen. Die Verantwortlichen der Autobahngesellschaft Autostrade d‘Italia stehen ganz oben auf der öffentlichen Abschussliste. Arbeitsminister und Vizepremier Luigi Di Maio brachte bereits Geldstrafen für die Autobahnbetreiber-Gesellschaft in Höhe von 150 Millionen Euro und die Entlassung der Manager ins Spiel, bevor die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufnahm. Der Staub unter der Brücke war noch nicht einmal gesackt, da wartete der zackige und von Umfragen begünstigte Innenminister Matteo Salvini von der rechtsnationalen Lega bereits in Manier eines Sheriffs auf. „Ich will Vor- und Nachnamen der Verantwortlichen“, polterte er.

 Ein Trümmerhaufen: Feuerwehrleute bergen einen Verletzten aus den Resten der teilweise eingestürzten Autobahnbrücke Ponte Morandi. Noch immer suchen die Helfer nach Vermissten.

Ein Trümmerhaufen: Feuerwehrleute bergen einen Verletzten aus den Resten der teilweise eingestürzten Autobahnbrücke Ponte Morandi. Noch immer suchen die Helfer nach Vermissten.

Foto: dpa/Luca Zennaro

Von großen Infrastruktur-Plänen ist in Italien nun die Rede, von systematischen Untersuchungen bei Brücken, Tunnels und Viadukten. Ministerpräsident Giuseppe Conte, der gestern Betroffene in Genua besuchte, schrieb auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“ Italien könne sich keine weiteren Tragödien wie diese erlauben, schrieb er. Es klang eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugung.

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