Die Frau mit den drei Leben

Saarbrücken · Mit 55 machte sie ihr Übersetzer-Diplom, mit 67 ihren Doktor und stieg dann zur „Grande Dame“ der saarländischen Mundart auf. Dieses Jahr wird die Dudweiler Autorin Edith Braun 95 Jahre alt – und hat ganz eigene Ansichten zum Alter und zur Emanzipation.

 Edith Braun hat selbst Wörterbücher verfasst, in ihrer Bücherwand finden sich unzählige weitere Nachschlagewerke. Mittlerweile schreibt sie Biografisches. Foto: Oliver Dietze

Edith Braun hat selbst Wörterbücher verfasst, in ihrer Bücherwand finden sich unzählige weitere Nachschlagewerke. Mittlerweile schreibt sie Biografisches. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Mit drei Sachen darf man ihr nicht kommen: mit ihrem Alter, der Emanzipation und der saarländischen Identität. Oder doch. Denn dann lernt man das resolute Potenzial der "Grande Dame" der saarländischen Mundart überhaupt erst richtig kennen, eine Mischung aus Schlagfertigkeit und Mutterwitz, Temperament und Widerspruchsgeist. Dr. phil. Edith Braun spricht dann so, wie ihr "de Schnawwel gewachs is" - klar, präzise, unsentimental. Das Standard-Kompliment, sie wirke topfit für ihr Alter, kontert sie: "Ich mag es nicht, wenn ich auf mein Alter reduziert werde." Zwei Hörgeräte, einen Stent, Geh-Probleme, mehr Beschwerden seien da nicht. Nur: Der Lebensstoff gehe halt aus. Das macht Edith Braun weder ängstlich noch verdrießlich, sie hofft vielmehr auf "einen gesunden Herzinfarkt".

Sie lebt seit 1988, seit der Übergabe ihres Hauses am Saarbrücker Rotenbühl an die Tochter, allein im zwölften Stock eines Dudweiler Hochhauses, bis zu dem nicht mal der Aufzug ganz hochfährt. Treppenlifter oder Altersheim laute die Alternative, sagt Edith Braun forsch und fröhlich. Bis gerade eben hat Edith Braun noch an ihrem Computer gesessen. Hier entstehen die Layouts für ihre Bücher, auch für ihr nächstes Projekt. "Mein drittes Leben" wird nach "In Alters Frische" (2015) wieder eine Art Biografie. Schließlich hatte sie, wie sie meint, mehr als ein Leben.

Zuerst war da die Zeit als Hausfrau und Mutter am Rotenbühl, es folgte die Studienphase, danach - Braun war Mitte 60 - fing sie gleich zweimal Feuer: für einen neuen Mann, den Saarbrücker Phonetik-Professor Max Mangold , und für dessen Passion: Dialektforschung . 1984 gewann Mangold Braun zur Mitarbeit am "Saarbrücker Wörterbuch". 4000 Wörter sollte Braun auflisten, sie reiste mit dem Tonband in alle Gegenden des Saarlandes - bienenfleißig war sie wohl schon immer. Wie sonst erklärte sich eine derart beeindruckende Veröffentlichungs- und Werkliste? Jedenfalls fanden 28 000 der von Braun gesammelten Begriffe Eingang in das heute als Standardwerk angesehene Lexikon. Danach begleitete sie Mangold dreißig Jahre lang, bis in die Demenz. Er starb im vergangenen Jahr.

Energisch stellt Braun fest: "Mir ist es noch nie so gut gegangen wie im Alter." Sie meint damit nicht zuletzt auch ihre finanzielle Unabhängigkeit. Seit dem Tod ihres Mannes 1976 verdiente sie eigenes Geld: als Publizistin und Autorin, Moderatorin (Saarländischer Rundfunk ) und SZ-Mundart-Kolumnistin, stieg zur "Mundart-Päpstin" des Saarlandes auf. Geachtet, aber auch bekrittelt, als "Gouvernante". Denn Braun kämpfte nicht nur dafür, die Mundart als eigenständige Sprache mit eigenem Wortschatz und eigener Grammatik literaturfähig zu machen, sondern sie bestand in den Mundart-Werkstätten auch darauf, dass die Kollegen lautgerecht schrieben, nach dem phonetischen Lehrbuch. Doch eine wie Edith Braun hat nun mal keine Manschetten. Weil sie als Frau ihrer Generation immer schon Ellbogen einsetzen musste? Als erste in der Familie, als eines von fünf Kindern eines Malstatter Schlossermeisters, machte sie Abitur, absolvierte vor der Ehe sogar ein paar Jura-Semester. Später, als die Sowjetunion noch hinter dem Eisernen Vorhang lag, reiste sie ohne Ehemann dorthin. Eine mutige Emanze? "Dummes Geschwätz!", sagt Braun, die mit frauenkämpferischen Thesen wenig anfangen kann. Insbesondere die Feministinnen des Linguistik-Fachs, die die weiblichen Endungen "in" und "innen" durchsetzten, ärgern sie: "Diese Frauen haben der Sprache einen Tort angetan". Herausgekommen sei eine "Aufblähung der Wörterbücher ".

Immer wenn Braun Wendungen ihrer "Muddasproach" einfließen lässt, tut sie dies gezielt, um deren Qualitäten zu nutzen, etwa herzlich Klartext zu reden. Mundartliche Redewendungen hält sie für eine "Quelle der Volksweisheit". Doch bis zu dieser Erkenntnis war's ein langer Weg. Zwar entwickelte sie bereits als Kind eine Affinität zur Zweisprachigkeit, rief in der Völkerbundzeit "Voulez vous Kartoffelsupp mit verbrannte Klöß?" Auch lernte sie bei Ausflügen zu ihrer in den USA lebenden Schwester "Kitchenenglisch" und pflügte sich als Übersetzerin durch Hochenglisch und Russisch.

Doch erst spät, durch ihren sprachverrückten Lebensgefährten Mangold , lernte sie Kraft, Glanz und Würde von Dialekten kennen. Genau deshalb hört man von Braun, in der man eine Gralshüterin saarländischer Eigenart vermuten würde, nur Ernüchterndes zur angeblich spezifischen saarländischen Identität: "Das Saarland ist ein politisches Gebilde. Es gibt keine einzigartige saarländische Seele." Es sei nun mal so: Alle Völker wollten was Besonderes sein. Mit Heimattümelei hat Brauns Einsatz für die Mundart also gar nichts zu tun.

Überhaupt ist Braun auch gerne nicht da. Sie liebt das Reisen. Mit Mitte 80 entdeckte sie Mallorca und die Kanaren. Seitdem fliegt sie jährlich hin und lernt Spanisch. Eine genussvolle Pflicht für eine Übersetzerin und Sprachwissenschaftlerin. Ihr Tipp? "In jedem Land gehe ich zum Frisör und zur Fußpflege, da muss man sich unterhalten." Doch was faszinierte sie ausgerechnet an Russisch? Eine Freundin aus Bad Dürkheim schubste sie Ende der 70er Jahre zu einer ersten Reise in die UdSSR. Braun verstand nicht nur kein Wort, auch den Stadtplan auf Kyrillisch empfand sie als einen einzigen Vorwurf. "Ich sagte mir: Hier komme ich wieder hin und dann kann ich mich verständigen."

Das war nicht nur der Beginn einer geradezu märchenhaften Bildungskarriere - am Ende stand 1988 der Doktorhut in Phonetik , Slawistik und Germanistik -, sondern auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Russische Menschen, sagt Edith Braun , seien "wie warme Öfchen", besonders empathisch. Generell hält die 94-jährige Autorin soziale Kontakte für das entscheidende Vitalisierungs-Medikament. Gäbe es noch das gute alte Telefon, die Drähte würden bei ihr glühen. Sprechen, ein Lebensexilier.

Zum Thema:

Auf einen Blick Ausgewählte Werke von Edith Braun : "Saarbrücker Wörterbuch" (1981), "Lebendige Mundart . Gudd gesaad" (1996), "Der saarländische Struweelpeter" (1999), "Geheimsache. Max und Moritz (2005). "Necknamen und Schimpfnamen saarländischer Orte" (2007). Lesung aus der Biografie "In Alters Frische" am 4. April, 20 Uhr, im Saarbrücker Künstlerhaus (Karlstraße 1), Eintritt frei. ce

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort