Die Briten und der Poppy-Wahnsinn

London · „Poppy“ ist der englische Ausdruck für Klatschmohn und hat für die Briten eine besondere Bedeutung. Diese Blume am Revers der Kleidung ist ein Zeichen der Trauer um Kriegsopfer. Wer darauf verzichtet, erntet geballten Zorn.

Eine britische Supermarktkette hat an ihre Kunden die Samen für eine Million Klatschmohnpflanzen verschenkt. Die Saat soll im nächsten Jahr aufgehen, wenn Großbritannien damit beginnt, vier Jahre lang der Toten des Ersten Weltkriegs feierlich zu gedenken. Das ganze Land soll ein "Meer von Rot" werden, freuen sich die Organisatoren. Die rote Klatschmohn-Blüte - "Poppy" genannt - symbolisiert für die Briten die Solidarität mit den Soldaten im Kriegseinsatz, aber auch mit den Gefallenen, Verwundeten und den seelisch Verstümmelten.

Verglichen mit dem, was die Briten für das nächste Jahr an organisiertem nationalen Pathos planen, ist der Poppy-Wahnsinn, der sich in diesem November der Öffentlichkeit darbietet, also vermutlich nichts. Verglichen mit anderen Ländern erscheint die britische Kriegserinnerung, speziell um den "Remembrance Day" am 11. November, aber verblüffend. Die Königin, der Premierminister, Regierung und Opposition sind in der öffentlichen Trauerbekundung vereint. Am Samstagabend wurde das Wiedersehen eines zehnjährigen Mädchens mit seinem Soldaten-Vater nach dessen Einsatz im Indischen Ozean vor der Queen und Tausenden weiteren Augenzeugen sowie einem Millionenpublikum live im Fernsehen zelebriert. Die Nation weinte vor Rührung.

Politiker, Sportler, Filmschauspieler, Fernsehmoderatoren, Beamte und Leute auf der Straße - kaum jemand, der halbwegs wichtig ist oder sich zumindest dafür hält, kann auf den roten "Poppy" am Revers verzichten. Wer sich dennoch traut, der riskiert, sich den geballten Zorn der landesweiten Trauergemeinde zuzuziehen. Patricia Jackson, methodistische Pfarrerin im Städtchen Telford in der Grafschaft Shropshire, hatte sich geweigert, sich die rote Mohnblüte an den Talar zu heften. Der Pfarrgemeinderat enthob sie "bis auf weiteres" kurzerhand ihres Amtes und lässt den Sonntagsgottesdienst von einem Laien halten.

Vor zwei Jahren hatte der britische Fußballverband einen ernsthaften Streit mit dem Weltfußballverband Fifa, weil er durchsetzen wollte, dass die englischen Kicker eine eingestickte Mohnblüte auf dem Trikot tragen dürfen. Die Fifa sah dies als unerlaubte politische Meinungsäußerung, was Premierminister David Cameron wiederum als "empörend" empfand.

Kritiker der Massenaktion wie Pfarrerin Jackson sind in der Minderheit. Der Fernsehmoderator Jon Snow sprach eingedenk des aufgebauten moralischen Zwanges wiederholt vom "Poppy"-Faschismus. Der Kriegsveteran und heutige Aktivist Harry Leslie Smith schrieb jüngst in einer Kolumne für den "Guardian", er werde nach vielen Jahrzehnten nun zum letzten Mal die Mohnblüte tragen. "Ich werde als Kriegsveteran nicht länger zulassen, dass die, die in den Weltkriegen starben, von unseren gegenwärtigen oder früheren Politikern als Feigenblatt dafür hergenommen werden, den Unsinn im Irak zu rechtfertigen, unseren dubiosen Anti-Terror-Krieg in Afghanistan und die Eliminierung jeder Privatsphäre." Im nächsten Jahr werde er vielleicht einen weißen "Poppy" als Symbol des Friedens tragen.

Für viele ehemalige Kriegsteilnehmer, für Witwen von Gefallenen und vor allem für die Volksseele auf der Insel ist die kollektive Erinnerung aber unverzichtbar. Der Verkauf der aus Papier gebastelten Mohnblumen gegen eine Spende wird von der Veteranen-Vereinigung British Legion organisiert. 37 Millionen Pfund (44,3 Millionen Euro) will sie in diesem Jahr einnehmen. Dafür werden unter anderem Reha-Zentren für Verwundete unterstützt, aber auch Feste und Freizeitaktivitäten für Ex-Soldaten finanziert. Die wenigen Kritiker meinen dagegen, das seien Dinge, die der Staat zahlen soll, der die Männer ja schließlich auch in den Krieg schicke.

Die Mohnblume als Symbol der Erinnerung geht auf das Gedicht "In Flanders Fields" aus dem Jahr 1915 zurück. Darin beschreibt der kanadische Sanitätsoffizier John McCrae die Trauer über den Tod eines Kameraden. In dem Gedicht thematisiert McCrae den in Flandern blühenden Klatschmohn. "In Flanders Fields the poppies blow, between the crosses row on row. . ." ("Auf den Feldern Flanderns blüht der Mohn, zwischen den Kreuzen, Reihe für Reihe. . .") heißt es zu Beginn im Text des Gedichtes.

Der Brauch, die stilisierte Mohnblume als Zeichen der Erinnerung an gefallene Soldaten zu tragen, wurde noch in den Kriegsjahren in Nordamerika begründet. Heute ist er praktisch ausschließlich auf Großbritannien beschränkt.

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