Viele wollen Verschiebung des Austritts Die Brexit-Uhr tickt

Brüssel · Der EU-Austritt Großbritanniens soll mindestens bis zum 30. Juni verschoben werden – wenn die anderen EU-Länder mitspielen. Das hat gestern das Parlament in London beschlossen. Gibt es bis 20. März keinen Austrittsvertrag, kann sich der Austritt weiter verschieben – mit gravierenden Folgen.

 Im Tauziehen um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union schlägt die Uhr fünf vor Zwölf. Wie geht es jetzt weiter?

Im Tauziehen um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union schlägt die Uhr fünf vor Zwölf. Wie geht es jetzt weiter?

Foto: dpa/Friso Gentsch

Donald Tusk präsentierte sich zwischen den beiden Brexit-Voten in London am Mittwoch- und Donnerstagabend als Vordenker. Er werde an die Staats- und Regierungschefs der „EU 27 appellieren, für eine lange Verlängerung offen zu sein, falls Großbritannien es für nötig hält, seine Brexit-Strategie zu überdenken und Konsens herzustellen“, schrieb der EU-Ratspräsident gestern auf Twitter im Vorfeld des Gipfeltreffens in der kommenden Woche.

Schon einige Tage vorher hatte Tusk angeregt, den Brexit nicht nur um ein paar Wochen, sondern bis Ende 2020 zu verschieben. Begründung: Dann könne man bis zum Ende dieser ohnehin geplanten Übergangsfrist das endgültige Abkommen über die künftigen Beziehungen aushandeln. Der bereits fertige Austrittsvertrag sei dann hinfällig, einen Backstop brauche man auch nicht mehr, weil ja die Grenzfrage zwischen Nordirland und Irland geklärt sei. Premierministerin May hatte postwendend „Nein“ gesagt.

Dennoch zeichnen sich derzeit zwei Möglichkeiten ab, die unterschiedliche Konsequenzen haben und in Kraft treten könnten, falls May mit dem vorliegenden Vertrag am 20. März im Unterhaus zum dritten Mal abblitzt.

Eine begrenzte Verschiebung des Brexit ist bis spätestens 30. Juni möglich. Am Tag darauf tritt das im Mai gewählte neue Europäische Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Sollte das Vereinigte Königreich über diesen Stichtag hinaus noch ordentliches Mitglied der Union sein, müsste es ebenfalls Abgeordnete nach Straßburg schicken. Die Briten stellen derzeit 73 Parlamentarier, so viele Mandate müssten wieder besetzt werden.

Dadurch könnte sich die Gewichtsverteilung im Plenum gravierend ändern, weil die britische Labour-Partei, die der sozialdemokratischen Fraktion angehört, wieder stark werden dürfte. Es gilt als wahrscheinlich, dass diese S&D-Fraktion sogar die Christdemokraten überflügeln könnte. Denn die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) bekommen keine Verstärkung aus dem Königreich – die konservativen Tories gehören einer anderen Fraktion an. Gegenüber unserer Zeitung wurde mehrfach bestätigt, dies sei das Szenario, das man im Lager von Manfred Weber (CSU) am meisten fürchtet. Denn in diesem Fall hätte der christdemokratische Spitzenkandidat plötzlich keinen Anspruch auf die Nachfolge Jean-Claude Junckers mehr. Der Niederländer Frans Timmermans, Frontmann der europäischen Sozialdemokraten, wäre wohl als neuer Kommissionspräsident nicht zu verhindern.

Spekulation, hieß es dazu gestern auf den Gängen rund um den Straßburger Plenarsaal. Das ist zwar richtig, aber tatsächlich würde ein Vollmitglied Großbritannien die europäische Arithmetik aus der heute absehbaren Balance bringen. Zumal dann, wenn die Insulaner Ende 2020 aus der EU austreten – und plötzlich doch wieder die Christdemokraten die stärkste Kraft in der europäischen Abgeordnetenkammer wären.

Dann müsste nämlich die für Juli geplante Veränderung des Plenums nachgeholt werden: Das hohe Haus würde von 751 auf 705 Mitglieder verkleinert, einige Mandate bekommen kleinere EU-Staaten zugeschlagen. Der Rest bleibt frei für spätere Beitrittskandidaten. Auch die Kommission müsste weiter 27 Kommissare plus den Präsidenten haben. London wäre gezwungen, einen eigenen Kandidaten zu benennen.

Als „völlig abstrus“ wurde gestern  die Vorstellung bezeichnet, dass nach einem auf lange Sicht verschobenen Brexit die britische Regierungschefin beim EU-Gipfel am 9. Mai in Sibiu/Hermannstadt (Rumänien) am Tisch sitzen würde, obwohl die Planung vorsah, dass die 27 Staatenlenker nach vollzogenem Brexit unter sich einen Aufbruch der EU für eine Zukunft ohne das Vereinigte Königreich verabschieden.

  Atemlos durch die Schlacht: Die britische Premierministerin Theresa May zieht im Brexit-Gerangel ihre letzten Joker. Wird ihr  der schwierige Spagat gelingen?

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Foto: dpa/House Of Commons

Aber zunächst einmal mussten die britischen Abgeordneten darüber abstimmen, ob sie das geplante Austrittsdatum 29. März überhaupt nach hinten verschieben wollen. Das zumindest taten sie gestern Abend. Mit 412 gegen 202 Stimmen entschied das Unterhaus, mindestens drei Monate mehr Zeit für das Ausscheiden aus der EU anzufragen. Ein Austritt wie bisher geplant am 29. März schien damit unwahrscheinlich. Der Antrag verpflichtet Premierministerin Theresa Mays Regierung dazu, bei der EU um einen Aufschub bis zum 30. Juni zu bitten, sollte das Parlament dem Brexit-Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in der kommenden Woche zustimmen.

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