Sterbehilfe in den Niederlanden Der Tod kostet 180 Euro und kommt per Post

Den Haag · In den Niederlanden löst der Rücktritt einer Sterbehilfe-Kontrolleurin eine heftige Debatte aus. Auch Ärzte schlagen Alarm: „Die Dämme brechen.“

Mareike ist tot. Das stand schon seit einigen Tagen fest, seitdem das Sterben der 74-jährigen Niederländerin vorbereitet worden war. „Sie kann nicht mehr“, sagte ihr Mann Hendrijk (79) am Telefon und wurde ganz still, als er hinzufügte: „Ich halte gerade ihre Hände.“ Vor fünf Jahren gab es die ersten Anzeichen von Demenz. „Ich bin nicht mehr die, die ich bin“, habe sie immer wieder gesagt und geweint – in den wenigen Augenblicken, in denen sie noch „wach“ war, ihre Familie erkannte. In einem dieser Momente sprach sie erst mit ihrem Mann, dann mit den Kindern und schließlich mit dem Hausarzt. „Ich habe kein Leben mehr, bitte lasst mich gehen“, sagte sie immer wieder. In diesen Tagen ist sie gegangen. Mit Hilfe ihres Arztes.

Mareike ist eine von jenen über 6000 Patienten, die derzeit jährlich in den Niederlanden in einer der Lebensende-Kliniken Hilfe zum Sterben suchten. Die Zahlen explodieren regelrecht – zwischen 2012 und 2017 stiegen sie um 67 Prozent. Allein im Vorjahr waren es 38 Prozent mehr als 2016. Für Berna van Baarsen war dieser Trend nicht mehr auszuhalten. Die Medizinethikerin gehörte einem der landesweit fünf Gremien an, die Anträge auf aktive Sterbehilfe prüfen müssen. Im Januar trat sie zurück.

Der Jahresbericht der Regionalen Kontrollkommission für Sterbehilfe unterstreicht ihr Empfinden: Derzeit sind es 17 Niederländer, die jeden Tag auf eigenen Wunsch aus dem Leben scheiden. „Die Dämme brechen“, beklagten vor einem Jahr 200 niederländische Ärzte in einer gemeinsamen Erklärung. „Unsere moralische Abneigung, das Leben eines wehrlosen Menschen zu beenden, ist groß.“ Ihr Vorwurf: Vor allem die Zahl der Demenzpatienten, die den Tod suchen, steige „eklatant“ an.

Es handelt sich dabei um jene, die eine zentrale Voraussetzung des Gesetzes nicht mehr erfüllen können: die freie, eigenverantwortliche Entscheidung für den Tod. Seit einigen Monaten wird bei unseren Nachbarn ein Fall vor Gericht verhandelt, bei der ein Arzt einer Frau die Todesspritze auf Bitten des Pflegeheims verabreicht hatte. Und die Entwicklung geht weiter. Die Niederländische Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende will die gesetzliche geforderte Mitwirkung der Mediziner zurückfahren, weil sich zunehmend mehr Ärzte weigern, die Todesspritze zu setzen.

Außerdem fordern die Befürworter weitere Liberalisierungen der Zulassung einer Todespille. Bestellen können die Mitglieder der „Kooperation letzter Wille“ das Präparat schon jetzt: 180 Euro kosten zwei Gramm eines tödlichen Medikamentes. An eine weitergehende Legalisierung ist aber nicht zu denken: Im Kabinett von Premier Mark Rutte sitzt die Christenunion mit am Tisch, die weitere Schritte verhindern will.

2001 legalisierten die Niederlande als erstes Land weltweit die aktive Sterbehilfe. Wenig später folgten Luxemburg und Belgien, wo es vergleichbare Trends gibt. Aktive Sterbehilfe („Euthanasie“) bleibt strafbar, wenn sie nicht von einem Arzt unter strengen Auflagen vorgenommen wird. So muss sich der Mediziner „von der Freiwilligkeit und dem Ernst des geäußerten Sterbewunsches seines Patienten überzeugen“. Hinzu kommt, dass ein unerträgliches Leiden vorliegen sollte, für das es keine Besserung und keine andere Abhilfe gibt. Inzwischen gelten die Sterbe-Regeln auch für Minderjährige, bei denen die Eltern allerdings mitzuentscheiden haben.

„Wenn es irgendwelche Tabus gibt, sind diese längst weg“, meint dazu Steven Pleiter, Chef der Lebensende-Klinik in Den Haag. „Immer mehr Menschen haben eine klare und ausdrückliche Meinung davon, wie sie ihr Lebensende gestalten wollen. Ich erwarte ein sichtliches Wachstum (an Anfragen, d. Red.) in den kommenden Jahren.“ Die Motive seien unterschiedlich. Da gebe es den 79-jährigen Siep, der sein Gift trank, um dem Schicksal zu entgehen, das seine Mutter ereilte: Demenz. Und Menschen wie der Patient mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung, der sich täglich selbst verstümmelte und von einer „lebenslangen Hölle“ befreit werden wollte.

Professor Theo Boer, einer der wichtigsten Vertreter der skeptischen Linie des Landes warnt vor der wachsenden Popularität der Euthanasie: „Am Anfang handelte es sich bei 98 Prozent um sterbenskranke Menschen mit wenigen verbleibenden Lebenstagen. Diese Zahl ist mittlerweile geschrumpft auf 70 Prozent.“ Andere berichten, dass auch „junge Personen bereits mit 30 oder 40 mit ihrem Hausarzt über Euthanasie reden.“ Viele aus Angst vor Demenz.

Dabei war es ausgerechnet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der in einem wegweisenden Urteil vor einigen Jahren die Türe zum Sterbewunsch auch für solche Patienten geöffnet hatte. Es ging damals um die Frage des 38-jährigen Franzosen Vincent Lambert, der nach einem Unfall im Koma lag. Ehefrau und Eltern stritten sich, ob die Geräte abgeschaltet werden dürfen. Der Menschenrechtsgerichtshof entschied: Sie dürfen – allerdings lebt Lambert noch immer.

Doch die Grundsätze des Urteils haben viel verändert: „Es ist der Patient, der im Mittelpunkt der Entscheidung steht. Das gilt auch dann, wenn der Betreffende nicht mehr in der Lage ist, seinen eigenen Willen auszudrücken oder keine schriftliche Willensäußerung von ihm vorliegt.“ Somit müssten staatliche Stellen zusammen mit den Ärzten und der Familie aus früheren Bekundungen des Patienten dessen Willen herausfinden. Ein Urteil, das wie Wasser auf die Mühlen der Sterbehilfe-Befürworter in den Benelux-Staaten wirkte.

Und nicht nur da. Betreiber einschlägiger Blogs berichten, dass gerade Veröffentlichungen über die niederländische Sterbehilfe-Szene regelmäßig zu Anfragen von Deutschen führten, was man tun müsse, um im Nachbarland sterben zu dürfen. Da führt aber kein Weg hin. Die dortigen Sterbehilfe-Regelungen gelten allein für jene, die im Land leben und krankenversichert sind. 

„Aber das Leiden derer, die freiwillig gehen möchten, hält sich nicht an Grenzen“, lautet ein Eintrag im Internet von einem Deutschen, der sich als „79-jähriger Todeskandidat“ vorstellt und so gerne seinen „täglichen Qualen ein Ende setzen möchte.“ Er hat den Satz dazu gesetzt: „auch im Sinne all derer, die ich so sehr liebe und denen ich nicht länger zur Last fallen will“. Doch die liberalen Regelungen in den Benelux-Staaten sind einzigartig in Europa. In Deutschland ist aktive Sterbehilfe verboten.

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