Zehn Jahre Grubenbeben in Saarwellingen Der Tag, der das Land für immer verändert

Saarwellingen · Nach dem schweren Grubenbeben in Saarwellingen heute vor zehn Jahren war endgültig klar: Der Bergbau hatte keine Unterstützung mehr.

Mehrere tausend Menschen demonstrierten nach dem heftigen Grubenbeben in Saarwellingen noch am gleichen Abend sowie auch am nächsten Tag  für ein sofortiges Ende des Bergbaus. Der damalige Ministerpräsident Peter Müller stellte sich der wütenden Menge.

Mehrere tausend Menschen demonstrierten nach dem heftigen Grubenbeben in Saarwellingen noch am gleichen Abend sowie auch am nächsten Tag  für ein sofortiges Ende des Bergbaus. Der damalige Ministerpräsident Peter Müller stellte sich der wütenden Menge.

Foto: rup

Um 16.31 Uhr am 23. Februar 2008 verändert sich das Saarland für immer. In nur wenigen Sekunden. Quälend lang wirken sie, wie eine Ewigkeit erscheinend: zermürbend bis ins Mark für alle Betroffenen in der Region. Nichts ahnend sitzt der Funkamateur Dieter Lorig im Hobbykeller seines Hauses in Nalbach-Bilsdorf. Plötzlich hört er aus der benachbarten Waschküche ein heftiges, undefinierbares Grollen, das immer stärker wird. Blumentöpfe, Eimer und Werkzeuge fallen aus den Regalen, der ganze Keller wackelt. „Da habe ich Panik bekommen. Ich dachte, etwas zieht mir den Boden unter den Füßen weg und das Haus kracht. Mein einziger Gedanke war: Raus hier.“

Auch aus den Nachbarhäusern strömen die Bewohner auf die Straße. Das ganze Dorf ist auf den Beinen. Panik pur. „Sauerei“ rufen einige „Verbrecher“ andere. Damit gemeint sind die RAG und der Bergbau. Risse an und in ihren Häusern sind die Bergbaubetroffenen längst gewohnt. Alleine 35 Erschütterungen zählt Dieter Lorig zwischen Anfang Januar und jenem 23. Februar 2008. Doch so heftig wie diesmal war es noch nie. Nach dem Beben kennt eine wütende Menge aus tausenden Betroffenen nur noch eine Botschaft: Schluss jetzt! Das denken offenbar alle, denn schon nach wenigen Minuten formiert sich aus den Orten der Umgebung ein Protestzug zum Saarwellinger Schlossplatz und zur katholischen Kirche St. Blasius. Sie wird zum Sinnbild des gesamten Protestes. Die Bilder von den Steinmassen, die vom Dach auf die Treppenstufen ´gefallen sind und Menschen hätten töten können, gehen um die Welt. Auch „Tagesthemen“ und „heute journal“ zeigen Aufnahmen aus Saarwellingen. Die Bilder der Steine auf den Treppenstufen verfehlen ihre Wirkung nicht. Erst lange Zeit später stellt sich heraus, dass die Kirche in Teilen baufällig war und das Bistum das Geld für die Renovierung wohl nicht in der geplanten Höhe zahlen wollte. Nach dem Beben wird die Schlange der Förderer immer länger.

Zehn Jahre später und mit dem nötigen Abstand zum damaligen Geschehen steht der inzwischen pensionierte Eisenbahner Dieter Lorig wieder auf den Treppenstufen der Kirche St. Blasius. Auch eines der Transparente hat er  mitgebracht, auf dem damals die Hauptforderung der Bergbaubetroffenen zu lesen war: „Kein Abbau unter bewohntem Gebiet.“ Nach dem Ende des Bergbaus habe sich die Lage in der Region wieder beruhigt, erzählt Lorig. Man gehe wieder vernünftig miteinander um. Schließlich sei es ja auch gelungen, für alle Bergleute sozialverträgliche Lösungen zu finden. Das war anfangs noch unklar. Lorig wurden die Schäden am Haus von der RAG ersetzt. Andere hatten da weniger Glück.

„Viele sind immer noch wütend auf das Unternehmen und die Art, wie dort mit Bergschäden umgegangen wird“, sagt Peter Lehnert, heute Bürgermeister in Nalbach, vor zehn Jahren einer der Sprecher der Bergbaubetroffenen. Er stellt klar: „Wir hatten nichts gegen die Bergleute selbst. Die haben nur ihren Job gemacht. Es ging uns immer darum, auf unsere Situation aufmerksam zu machen und gewaltfrei zu demonstrieren.“ Am 23. Februar abends kocht der Kessel aber über. Lehnert versucht, mäßigend auf die Leute einzuwirken. Keine Sekunde weicht er von der Seite des Ministerpräsidenten, der sich mit Kabinettsmitgliedern unter die wütende Menge mischt. Müller lässt sich in Häuser führen, Schäden zeigen, Sorgen schildern. Noch am gleichen Abend verkündet er den vorübergehenden Abbaustopp.

Müller ist zwar von den Ausmaßen des Bebens überrascht, nicht aber von der Entwicklung. Er will den Bergbau schon länger beenden, lässt seit Monaten hinter den Kulissen Arbeitsminister Josef Hecken Modelle durchrechnen, wie man das sozialvertäglich, also ohne betriebsbedingte Kündigungen, noch vor 2014 hinbekommen könnte: jenem Jahr, in dem der Saarbergbau ursprünglich enden sollte. Alle Rechenmodelle sind jetzt Makulatur. Joachim Rippel steht erst wenige Monate nach seiner Ernennung zum Wirtschaftsminister „vor der größten Herausforderung meiner Amtszeit. Für mich war das eine extreme Belastung. Uns war klar, dass die Diskussionen über ein Bergbau-Ende mit dem 23. Februar abgeschlossen waren. Die Gefahr für Leib und Leben war einfach zu groß.“ Dietmar Geuskens, Bezirksleiter der Gewerkschaft IG BCE erinnert sich an die versteinerten Minen am Montag danach bei einer Sitzung in der Staatskanzlei. „Peter Müller hat unmissverständlich erklärt, ein Wiederanfahren des Bergbaus könne überhaupt nur noch in Frage kommen, wenn die RAG die Garantie gibt, dass keine Gefahr für Leib und Leben besteht.“ Müller legt damit die Messlatte so hoch, dass selbst RAG-Chef Bernd Tönjes diese Garantie nicht geben kann.

Aber was tun von jetzt auf gleich mit noch über 5000 Mitarbeitern? „Es hätte zu einer sozialpolitischen Katastrophe geführt, hätten wir sofort Schluss gemacht. Für uns und für das Saarland. Das wussten auch alle Beteiligten“, sagt Tönjes im Rückblick. Bis 2012 gibt es schließlich einen Rest-Rumpfbergbau mit deutlich weniger Beschäftigten, aber nicht mehr im Gebiet des Grubenbebens. Für alle anderen Bergleute wird die bisher größte Hilfsaktion ins Leben gerufen, der „Solidarpakt Saar“.

Viele Unternehmen stellen zusätzlich ehemalige Bergleute ein, darunter die Dillinger Hütte und Saarstahl. Karlheinz Blessing, damals Arbeitsdirektor beider Hütten, greift zu. „Die haben ihr großes Wissen mitgebracht. Der Bergbau war führend in der Arbeitssicherheit.“ Allerdings wird der Bergbau wegen seiner ständigen Beben auch zunehmend zur Gefahr für die Hütte und ihre Produktion. Deshalb werden eigene Gutachten in Auftrag gegeben. „Die Stimmung hat sich auch bei uns zu Lasten des Bergbaus gedreht“, so Blessing. „Wir hatten Glück, dass uns auch die Stahl-, und die Autoindustrie im Saarland geholfen haben“, sagt Gewerkschafter Geuskens heute.

Nach eigenen Worten „unter Schock“ stand nach dem Beben auch Hanspeter Georgi. Rippel holt seinen Amtsvorgänger aus der Pension zurück, weil dieser über beste Kontakte in zahlreiche Unternehmen verfügt. Georgi leitet die „Trans-Fair-Stelle Bergbau Saar“. Dem Team gelingt es innerhalb von zwei Jahren rund 500 Bergleute zu vermitteln. Diese sind zu jung, um mit Übergangsregelungen in Pension zu gehen. „Wir haben jeden Tag Klinken geputzt“, so Georgi: von Bosch über ZF bis hin zu Ford, Hydac, Fresenius. Auch unter der ersten Generation der Saarbahn-Fahrer sind ehemalige Bergleute. Etwa 1700 Beschäftigte wechseln ins Bergwerk nach Ibbenbüren. Die letzten kommen Ende 2018 als Pensionäre zurück.

 Dieter Lorig ist selbst Bergbaubetroffener. Zehn Jahre nach dem Beben steht er noch einmal auf den Treppenstufen der katholischen Kirche St. Blasius in Saarwellingen, die am Nachmittag des  23. Februar 2008 besonders heftig getroffen wurde.

Dieter Lorig ist selbst Bergbaubetroffener. Zehn Jahre nach dem Beben steht er noch einmal auf den Treppenstufen der katholischen Kirche St. Blasius in Saarwellingen, die am Nachmittag des  23. Februar 2008 besonders heftig getroffen wurde.

Foto: Ruppenthal
Wie ein neues Zeitalter im Saarland begann.
Foto: BeckerBredel/bub
Wie ein neues Zeitalter im Saarland begann.
Foto: RAG
Wie ein neues Zeitalter im Saarland begann.
Foto: BeckerBredel

Tomas Fritz aus Dillingen bewirbt sich als gelernter Bergmechaniker lieber direkt bei der Dillinger Hütte, arbeitet im Stahlwerk im Schmelzbetrieb. „Meine Tochter war noch klein. Ich wollte miterleben, was sie denkt, was sie macht und wie sie groß wird.“ Sein Fazit fällt eindeutig aus: „Wichtig ist doch, dass es am Ende gelungen ist, den Bergbau sozialverträglich zu beenden. Kein Bergmann ist ins Bergfreie gefallen.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort