Ärzte ohne Grenzen Der Arzt, die Kinder und die Malaria

Bous/Saarbrücken · Den Umgang mit sterbenden Kindern hatte Philip Steffens während seiner Arzt-Ausbildung nicht gelernt. Dass Heilung oft nicht möglich ist, war eine bittere Erfahrung, die der Oberthaler im Einsatz für Ärzte ohne Grenzen in Afrika machte.

 „Zwischenzeitlich dachte ich, das machst du nie wieder“: Allgemeinarzt Dr. Philip Steffens berichtet von seinen Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen.

„Zwischenzeitlich dachte ich, das machst du nie wieder“: Allgemeinarzt Dr. Philip Steffens berichtet von seinen Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen.

Foto: Rich Serra

„Ich bin nicht mehr dieselbe Person, seit ich den Mondschein auf der anderen Seite der Welt gesehen habe“, sagte die amerikanische Schriftstellerin Mary Anne Rademacher einmal über Afrika. Das trifft zweifellos auch auf den aus Oberthal stammenden Arzt Philip Steffens zu. Denkt er an Afrika, dürfte ihm jedoch zunächst weniger der romantische Mond vor Augen schweben, als vielmehr der Kampf gegen die Zeit und den Tod, gegen den Mangel an Medikamenten und an Nahrung.

Ein Foto zeigt den rotblonden Deutschen lächelnd inmitten strahlender dunkelhäutiger Kinder. Ein Zeugnis purer Lebensfreude. Nichts scheint so weit weg wie der Tod. Und doch ist er hier allgegenwärtig. Gerade auch bei den Kindern. Kein halbes Jahrzehnt ist es her, seit jemand diesen fröhlichen Moment einfing. Einer von vielen, sicher. Doch das Wechselbad der Extreme ist es, das Steffens‘ Afrikabild nachhaltig geprägt hat.

Wer ihn heute als Arzt in seiner Praxis in Bous konsultiert, kommt an Afrika nicht vorbei: Erinnerungen auf Fotos gebannt, eingerahmt an Wänden hängend, Holzstühle, kunstvoll geschnitzt, Figuren. Der schwarze Kontinent ist omnipräsent. Dafür hat auch Steffens‘ Onkel gesorgt, der als einer von vier weiteren Ärzten in der Gemeinschaftspraxis arbeitet. Bernd Steffens ist ähnlich wie sein Neffe Philip „von Afrika infiziert“.

Schon immer habe er Allgemeinmediziner werden wollen, sagt Steffens. Ebenso wie ihn schon immer der humanitäre Dienst im Ausland anzog. Die 1971 in Frankreich gegründete Organisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) schien ihm da vielversprechend. Freilich auch, um andere Regionen der Welt kennenzulernen.

Bis dort allerdings eine Entscheidung fällt, müssen Bewerber gelegentlich lange Wartezeiten in Kauf nehmen. „Ich habe den Eindruck, dass sie die Kandidaten manchmal absichtlich etwas zappeln lassen“, meint der 42-Jährige. „Bleibt man trotzdem am Ball, ist das durchaus ein Auswahlkriterium.“ Ärzte ohne Grenzen brauche eben verlässliche Leute, die nicht schnell aufgeben. Gerade Neulinge müssten daher auch bereit sein, ein halbes bis ein Jahr am Stück im Einsatzgebiet zu bleiben. Was Steffens an der größten internationalen Organisation für medizinische Nothilfe besonders schätzt, sind ihre humanitären Prinzipien: Neutralität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit. Jeder Zivilist in akuter Not, so heißt es da, hat ein Recht auf Hilfe, ungeachtet seiner ethnischen Herkunft oder politischen und religiösen Überzeugungen.

Fast drei Jahre ist es jetzt her, seit Steffens zum dritten und vorerst letzten Mal von einem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen zurückkam. Die Erinnerungen scheinen indes für den Arzt so frisch, als sei er gestern erst zurückgekehrt. Im April 2014 begleitete er erstmals für die Organisation ein Malaria-Notfallprojekt. In Katanga im Südkongo war zuvor ein Explorationsteam auf rund hundert neue Kindergräber in einer Woche gestoßen. Höchste Eile war geboten, um die Epidemie einzudämmen. „Ein hartes Projekt“, erinnert sich der Saarländer. Auch deshalb, weil er und zwei Krankenschwestern in dem fünfköpfigen Team noch Neulinge waren. „Zwischenzeitlich dachte ich, das machst du nie wieder“, bekennt Steffens. Vor allem widerstrebte es ihm, Patienten mit anderen Krankheiten abzulehnen zu müssen. „Aber wir waren ausschließlich für die Malaria-Fälle eingesetzt, es galt, den sogenannten Peak schnell zu überwinden.“ Die Sterblichkeit auf unter fünf Prozent zu senken, ist eines der ehrgeizigen Ziele von Ärzte ohne Grenzen – manchmal ist es ein zu ambitioniertes. In dem Krankenhaus, in dem Steffens arbeitete, wurde die schwere Malaria behandelt, die mit Blutarmut, lebensbedrohlichen Gehirnschwellungen, extremer Unterzuckerung, Lungenentzündung, Nierenversagen und weiteren Co-Infektionen einhergehen kann. Gravierende Symptome also, wie sie vor allem bei Menschen auftreten, deren Immunsystem zum ersten Mal mit Malaria konfrontiert ist. Kinder sind deshalb besonders betroffen. „1201 Patienten mit schwerer Malaria haben wir behandelt“, erzählt Steffens, „und über 30 000 Malariakranke in mobilen Kliniken mit Tabletten versorgt.“

Was der Saarländer dabei vor allem lernen musste, war der Umgang mit dem Tod. „Ich hatte vorher noch nie ein totes Kind gesehen. Dort war ich in 100 Tagen bei 84 toten Kindern dabei.“ Worte, die wie herauspresst klingen, weil die Erinnerung so stark berührt. Einmal habe er einen Nervenzusammenbruch erlitten, „als ich das dritte Kind in Folge reanimierte. Leider vergeblich“. Als er sich danach zum Vater des Kindes umdrehte und sah, dass dieser anfing zu weinen, „da hat sich auch bei mir eine Schleuse geöffnet“, berichtet Steffens. Von da an war klar: Er musste sich einen emotionalen Panzer zulegen.

Das gelang ihm – sogar mehr als ihm lieb war. Es war gegen Ende des Projektes, als die Ärzte kranken Kindern mit einem Sauerstoff-Konzentrator etwas Linderung verschaffen wollten. Die Kinder kamen nacheinander an die Reihe – fast wie am Fließband. Wieder starb eines in Steffens Armen. Er wies den Pfleger an, das Kind schnell seiner Mutter zu übergeben, weil andere bereits auf den Sauerstoff warteten. Der Pfleger bat ihn, doch einen Moment innezuhalten: „Es ist doch gerade erst gestorben.“ Da, sagt Steffens, „bin ich über mich selbst erschrocken“. Seine Gefühlswelt zwischen Mitgefühl, Routine und Abstumpfung ins Gleichgewicht zu bringen, ist ein harter Lernprozess. Bei Ärzte ohne Grenzen ist daher auch ein Psychologenbesuch Pflicht.

Nicht zuletzt, weil auch die Rückkehr aus einem Einsatzgebiet einen Kulturschock bedeutet. „Man versteht die Probleme der Menschen hier zunächst gar nicht mehr.“ Nicht dass diese nicht vorhanden wären, aber man sei, so drückt es Steffens aus, im wahrsten Sinne des Wortes „ver-rückt aus der ursprünglichen Empfindung“. Gut einen Monat brauchte der Arzt nach jedem Einsatz, um sich wieder an die „Erste-Welt-Probleme“ zu gewöhnen. „Wenn ich mich etwa beim Autofahren wieder so richtig echauffieren konnte, dann wusste ich, dass ich wieder angekommen bin.“

Das nächste Projekt führte Steffens im Oktober 2014 nach Somali, einer Region in Äthiopien. Auch hier eine Situation, in der er einem Mann erklären musste, dass er sein unterernährtes Kind nicht retten konnte. „Ich habe alles probiert“, erinnert sich Steffens. Der Vater nahm das offenbar gelassen: „Es war Allahs Wille, machen wir eben ein neues.“ Schließlich sei es ja nur eine Tochter gewesen. Verurteilen, meint Steffens, wolle er den Mann wegen dieser krassen Aussage dennoch nicht: „Er wollte mich, den Arzt, damit trösten.“

Noch einmal kehrt Steffens für Ärzte ohne Grenzen nach Afrika zurück: Anfang Dezember 2015 ist es ein weiteres Malaria-Projekt in Sud-Kivu, einer Provinz im Ostkongo. Hier ist der saarländische Arzt auch für Gesundheitsaufklärung, Ernährungsprogramme für Unterernährte, Schwangerenbetreuung und Impfungen zuständig.

Für die Ärzte bedeuten Einsätze dieser Art nicht selten Mangelverwaltung: zu wenig Medikamente, zu wenig medizinisches Material. Zwölf bis 14 Arbeitsstunden an sieben Tagen die Woche sind keine Seltenheit. Es sind Grenzerfahrungen: „Man hat oft keine Vorstellung davon, welche Reserven man mobilisieren kann“, erklärt der Mediziner. Und wie man sich einschränken kann, denn auch die Ernährung ist bei weitem nicht so üppig und abwechslungsreich wie zu Hause. Und natürlich spielt auch das Thema Sicherheit eine Rolle, nicht nur in Bürgerkriegsländern. Steffens beteuert dennoch, sich „zu keinem Zeitpunkt in akuter persönlicher Gefahr gefühlt“ zu haben. Vielleicht trug dazu auch die Vorschrift bei, sich auf längeren Fahrten in halbstündigen Abständen bei der Organisationszentrale zu melden.

Für Ärzte ohne Grenzen wird der 42-jährige niedergelassene Arzt wohl vorläufig nicht mehr im Einsatz sein. Auch wenn ihn Afrika nach wie vor lockt. Er will den Kontinent vorerst als Reisender weiter­erkunden. Kritik übt er an den europäischen Gesellschaften: „Wir sind durch Internet und Fernsehen völlig abgestumpft. Warum hört man nichts mehr von Darfur oder von der Zentralafrikanischen Republik?“ Dort schwelen die tödlichen Konflikte weiter – inzwischen unbeachtet. Weil wir das eigene Versagen ausblenden wollen, wie Steffens meint? Und weil die westlichen Regierungen die Länder der so genannten Dritten Welt weiter in Abhängigkeit halten wollen, auch weil sie deren Bodenschätze so günstig erwerben können?

Andererseits weiß Steffens die hiesigen Lebens- und politischen Verhältnisse sehr wohl zu schätzen – vermutlich mehr als die meisten seiner Mitbürger. „Ich möchte nirgendwo anders leben als in Deutschland“, sagt er, dem Gewissenskonflikt zum Trotz.

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