Bandenkriminalität Der Krieg der Kinder auf den Straßen von Paris

Paris · Die Gewalt rivalisierender Banden in Frankreichs Hauptstadt nimmt zu. Die Polizei ist schockiert – und ratlos. Jetzt schaltet sich der Innenminister ein.

 Innenminister Christophe Castaner will die Pariser Stadtviertel von den Gangs befreien.

Innenminister Christophe Castaner will die Pariser Stadtviertel von den Gangs befreien.

Foto: picture alliance/dpa/dpa Picture-Alliance / Frédéric Dugit

Zwei Dutzend Jungen in schwarzen Jacken, mit Kapuzen oder Mützen auf dem Kopf, rennen mit Eisenstangen in der Hand aufeinander zu, prügeln und brüllen sich an. Die Szene stammt nicht aus einem Kinofilm, sondern ereignete sich in der Nacht zu Mittwoch am Boulevard Mortier im Norden von Paris, gerade einmal 20 Gehminuten vom Friedhof Père Lachaise entfernt. Und der Straßenkampf fand ein tragisches Ende: Als die Polizei nach Mitternacht eintraf, fand sie einen 17-Jährigen schwer verletzt am Boden. Um ihn herum lagen Messer, Baseballschläger, Krücken, Eisenstangen, Tränengasdosen, eine Axt und ein Bohrer. Der Junge starb zwei Stunden später im Krankenhaus. So, wie einige Stunden vor ihm der ebenfalls 17-jährige Fodie, der vor der Wohnung seiner Eltern in Sarcelles, nördlich von Paris, von drei oder vier Angreifern zu Tode geprügelt wurde. Der Besenstil und die Holzstücke, die die Polizei fand, trugen die Spuren von Blut.

159 Konflikte zwischen Banden zählte die Polizei laut der Zeitung „Le Parisien“ zwischen Januar und August in Frankreich, mehr als 90 Prozent davon in der Hauptstadt und ihren Vorstädten. Während es im vergangenen Jahr nur einen Toten gab, waren es dieses Jahr schon ein Dutzend. Anfang Oktober versammelte die Stadtverwaltung von Paris Vertreter von Polizei, Schulbehörde und Staatsanwaltschaft, um darüber zu beraten, was gegen solche Bandenkriege getan werden kann. „Das Phänomen ist äußerst komplex“, sagte der Staatsanwalt von Paris, François Molins. Der erfahrene Jurist hat bereits die Pariser Terroranschläge aufgearbeitet, doch bei der Bandenkriminalität ist er ratlos. „Ich kann es nicht erklären.“

Molins war gestern auch dabei, als Innenminister Christophe Castaner den 19. Stadtbezirk besuchte, in dem eine der beiden Gangs vom Boulevard Mortier zu Hause ist. Denn dass es bei dem Konflikt um die Verteidigung eines Einflussbereiches ging, darüber sind zumindest die Anwohner sich einig. Der oberste Polizist Frankreichs, der erst seit zehn Tagen im Amt ist, demonstrierte Härte. „Die Gewalt dieser Banden ist völlig inakzeptabel. Ich werden nicht zulassen, dass die Jugendlichen solcher Banden zu Herren eines Viertels werden und es terrorisieren“, sagte Castaner. Deshalb solle eine genaue Landkarte der Gangs erstellt werden, „Treppenhaus für Treppenhaus, Quadratmeter für Quadratmeter.“ Der Bandenkrieg sei eine Art Volkssport geworden, dem er mit mehr Polizisten Einhalt gebieten will.

Während der Innenminister mit ernster Miene durch die Straßen spazierte, kam die in Tränen aufgelöste Mutter eines im Januar ebenfalls bei einem Bandenkonflikt getöteten Jungen auf ihn zu. „Er war unschuldig“, rief sie. Die Mütter in den betroffenen Vierteln sind auch diejenigen, die am stärksten gegen die Gewalt mobilisieren, denn laut Polizeistatistik sind 60 Prozent der Beteiligten noch minderjährig. „Jeder muss wach werden, denn das betrifft alle. Auch wenn wir alles für unsere Kinder tun, ist nicht garantiert, dass sie sich nicht in einer Prügelei wiederfinden und sterben“, bemerkte Cathy Latif, Vorsitzende einer Müttervereinigung gegen Gewalt, im Radiosender France Info.

Für die Konflikte nennt sie gleich mehrere Gründe: „Armut, Ungerechtigkeit und Rassismus. Diese drei Faktoren treiben die Jugendlichen in die Kriminalität.“ Ähnlich sieht das auch der Soziologe Marwan Mohammed. „Wir reden von Jugendlichen, die mehrheitlich Schulabbrecher sind oder sich nicht eingliedern lassen und die Ersatzmittel finden, um sich zu verwirklichen, zu existieren und zu konsumieren“, sagte der Experte der Tageszeitung „Le Monde“. Die Auslöser der brutalen Auseinandersetzungen sind den Fachleuten zufolge oft banal: Streit um ein Mädchen, eine Rempelei in der Metro oder eine Äußerung in den sozialen Netzwerken.

Allein Paris zählte in den vergangenen zwei Jahren 250 solcher Prügeleien, bei denen sich hauptsächlich Kinder gegenüberstehen. Die Gruppe der 13- bis 15-Jährigen sei stark vertreten, sagte die zuständige Bürgermeisterin Colombe Brossel Anfang Oktober. Die Realität gab ihr kurze Zeit später auf traurige Weise Recht: Am 14. Oktober starb ein Junge bei einem Bandenkonflikt in der Vorstadt Les Lilas, nur zwei Kilometer vom Boulevard Mortier entfernt. Er war erst 13 Jahre alt.

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