Das schwere Erbe der Sowjetunion"Es waren Idioten, die putschten"

Moskau. Alexej Wolochow (Foto: Hartwich) ist nie ausgezogen. Er hat nur ein wenig renovieren lassen. Große Veränderungen aber sind nicht Wolochows Sache. Das waren sie nie. Warum auch? Es gab den Staat. Er sorgte für einen. Er sagte, was gut und was schlecht ist. Er plante die Schule, die Universität, die Ferien, die Feiertage. Er plante das Leben. Einfach war das. Bequem

Moskau. Alexej Wolochow (Foto: Hartwich) ist nie ausgezogen. Er hat nur ein wenig renovieren lassen. Große Veränderungen aber sind nicht Wolochows Sache. Das waren sie nie. Warum auch? Es gab den Staat. Er sorgte für einen. Er sagte, was gut und was schlecht ist. Er plante die Schule, die Universität, die Ferien, die Feiertage. Er plante das Leben. Einfach war das. Bequem. Wolochow hätte gern all das behalten. Der Pädagoge aus Moskau leitet immer noch die Pionier-Organisation, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auseinanderfiel, verteufelt wurde und dann umbenannt. Warum aber das verfluchen, was einst gut war? Der bald 60-Jährige schimpft nicht. Er will nur sein Land zurück. "Es war ein besseres System, ein humaneres."Russland ist heute so frei, wie es in seiner Geschichte noch nie war. Und doch so bestimmend und übermächtig, wenn es um die politische und gesellschaftliche Weiterentwicklung geht. Es ist ein doppeltes Russland. Ein Land, das sich 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion immer noch in Großmachtfantasien übt und an Phantomschmerzen plagt.

Aufbruch. Start in eine neue Zeit. Voller Unsicherheit und Euphorie. Ein Taumeln an der Kante zum historischen Umbruch. Es ist der 19. August 1991, altkommunistische Hardliner haben Michail Gorbatschow in seinem Urlaubsdomizil in Foros auf der Krim unter Hausarrest gestellt. Die "Gruppe der Acht" verbreitet die Meldung, der sowjetische Präsident sei krank, könne die Amtsgeschäfte nicht weiterführen. Gorbatschows Datscha wird zum Gefängnis - für 60 Stunden, die das Leben von Millionen Menschen verändern, die Weltordnung umkrempeln. Der Staatsstreich scheitert. Russland muss sich neu erfinden. Manche zerbrechen daran.

In diesen Tagen erzählen viele Russen vom August-Putsch. Über Hoffnungen, Enttäuschungen, Resignation. Wie sie ihre Kinder schnappten und vor das Weiße Haus in Moskau rannten, ausharrten zwischen Panzern und Parteigenossen. Sie wussten nicht, was auf sie zukommt. Sie dachten nur: Es wird anders. Vielleicht. Freier, besser.

Heute sind viele ernüchtert. Vor allem die Generation, die sich so viel vom Wandel versprach. Von diesem zupackenden Mann aus Sibirien, der auf einen Panzer kletterte und mit seiner "Rede an die Bürger" den Putschisten die Stirn bot: Boris Jelzin. Er gewährte ihnen vergleichsweise große Freiheiten. Er bescherte den Russen das bis dahin ungekannte Geschenk einer demokratischen Verfassung - und stürzte sie damit ins Chaos.

Bis heute lastet das schwere sowjetische Erbe auf den Menschen im Land. Wie ein demokratisches Staatswesen auszusehen hat, definiert Russland selbst. Es seien lange Zeit westliche Modelle benutzt worden - nicht anzuwenden für ihr Land, das so anders sei. Die Staatsspitze betont das gern.

Die 90er assoziieren die Russen mit Chaos , Verbrechen und Brutalität. Jelzins Wirtschaftsreformen stürzten das Land in Armut, der von ihm initiierte Ausverkauf des Staates brachte lediglich den wenigen sich schnell Bereichernden etwas ein. Wladimir Putin erwies sich, als er 2000 an die Macht kam, in den Augen vieler als Heilsbringer, als starker Führer, der er bis heute sein will. Er sorgte für Stabilität, die Menschen konnten sich wieder etwas leisten - und merkten nicht, wie der Staat immer mehr die gewonnene Freiheit aushöhlte. Er schaltet die Opposition aus, verwandelt sich auch unter dem Präsidenten Dmitri Medwedew immer mehr in eine Sowjetunion unter veränderten Vorzeichen.

Trotz guter Ausgangslage stagniert das Land. Die gut Ausgebildeten wollen ins Ausland, da könne man noch etwas erreichen. Die, die bleiben, gehen in den Staatsdienst. Geld verdienen, für eine kleine Wohnung, ein Auto. Die Zivilgesellschaft baut sich nur langsam auf. Denn die meisten ziehen sich zurück, sind genau solche Phantome hinter ihren vier Wänden, wie der Staat es ist, der seine Bürger nicht ernst nimmt. Oder sie wünschen sich wie Alexej Wolochow die Sowjetunion zurück. Aber "natürlich nur das Beste davon". Was das ist? Wolochow seufzt.Moskau. Plötzlich spricht er über Toiletten. In Parks und in den Straßen. Er grinst, wie ein kleiner Junge, als hätte er etwas ausgefressen. Toiletten in Stawropol im Nordkaukasus. Aus der Gegend kommt er her. Ein Bauernsohn. Michail Gorbatschow (Foto: dpa) spricht leise, seine Stimme ist brüchig, alt ist er geworden. Geschichten aber, Erinnerungen aus seiner Jugend, aus seinem späteren Politleben, die kann er bis heute erzählen. Stundenlang könnte er da sitzen, schwärmen, bedauern. Denn eines weiß er auch mit 80 Jahren: Er selbst ist Geschichte.

Gorbatschow ist gefragt in diesen Tagen. Klar, dass es dabei nicht um Toiletten geht im hügeligen kaukasischen Vorland. Es geht um sein Land, damals und heute. Ein Land, das sich neu erfinden musste - vor 20 Jahren, als altkommunistische Hardliner sich gegen ihn richteten, ihn einsperrten auf seiner Datscha am Schwarzen Meer.

Viele wollen ihn treffen, vielen sagt er ab. Sein Moskauer Büro ist im Dauereinsatz - und bereitet schließlich eine Pressekonferenz vor. "Ich bin ein Träger von Geheimnissen, ich werde es auch bleiben", sagt Gorbatschow. Die Sowjetunion, sie hätte noch Bestand, davon ist der Mann, der zwei russische Worte - Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) - in die Welt trug und mit dem Konzept dahinter ein ganzes Reich verspielte, noch heute überzeugt. Nur demokratischer hätte sie sein müssen. Mit Pressefreiheit und Achtung von Menschenrechten. "Es waren Idioten, die damals putschten." Sicherlich habe er gewusst, dass er viele Gegner hatte, die ihm Schwäche vorwarfen, seine Reformen für Dummheit hielten. "Alles fängt mit einem Bruch an. Ich wollte demokratisieren, nicht zerstören." Doch genau das werfen ihm seine Landsleute bis heute vor: ein Totengräber sei er.

"Stille, die Menschen streben immer nach Stille. Aber es muss sich etwas ändern im Land, auch heute. Es müssen echte Wahlen her, eine echte Modernisierung." Eines Tages werde das Volk gegen das heutige Regime aufbegehren. inh "Es war ein besseres System, ein humaneres."

Alexej Wolochow

über die Sowjetunion

Auf einen Blick

Mit einer gefälschten Krankmeldung beginnt am 19. August 1991 der Staatsstreich von Moskau. An dem frühen Morgen teilt Vizepräsident Gennadi Janajew mit, dass Kremlchef Michail Gorbatschow wegen einer "Gesundheitskrise" von allen Ämtern entbunden sei. Während Gorbatschow während seines Urlaubs auf der Halbinsel Krim unter Hausarrest steht, verhängt Janajew in Moskau den Ausnahmezustand. Doch es regt sich schnell Widerstand. Zwei Tage später ist klar: Der Umsturz ist gescheitert. Gorbatschow kehrt in die Hauptstadt zurück und lässt die Putschisten festnehmen. Sein Erfolg ist jedoch von kurzer Dauer: Bis Jahresende zerfällt die UdSSR. dpa

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