Camerons letzter Gang nach Brüssel

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als hätten Europas Staatenlenker am Tag sechs nach dem Brexit-Votum der Briten wieder zu diplomatischer Freundlichkeit zurückgefunden. "Von allem abgesehen wollen wir Großbritannien weiter als Freund und Partner. Wir sind verbunden, wir bleiben verbunden", gab sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern vor den Türen des Brüsseler Ratsgebäudes professionell gesprächsbereit.

Zur gleichen Zeit empfing der Chef des zweitägigen EU-Gipfels, Ratspräsident Donald Tusk , drinnen den britischen Premierminister David Cameron . Die Atmosphäre zwischen beiden erschien eisig, weder beim obligatorischen Händedruck noch beim Zusammensetzen am runden Tisch wechselten beide auch nur ein Wort. Cameron, der Verlierer, wirkte, als fürchte er jetzt ein Donnerwetter. Dabei hat die Union längst ihre Sprache wiedergefunden. "Das europäische Projekt geht weiter", betonte Frankreichs Staatspräsident François Hollande . "Ich bin nicht wütend, ich bin nur ein bisschen traurig", meinte die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite. "Das ist kein Gipfel wie jeder andere", unterstrich Parlamentspräsident Martin Schulz und verwies auf die Dramatik der Lage: "Hätten Sie vor sechs Tagen geglaubt, dass führende amerikanische Ratingagenturen Großbritannien die Bestnote für Anleger entzieht?"

Cameron selbst bleibt auffallend still. Kein martialischer Auftritt vor den bereitstehenden Kameras, vor denen er sonst mit schneidendem Ton das Engagement des Vereinigten Königreiches für Europa in höchsten Tönen pries. Er werde "erklären, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen wird", sagte er zwar. Aber er ergänzte fast schon bittend seine Hoffnung, "dass das Ergebnis (der Austrittsverhandlungen, d. Red.) auch so konstruktiv wie möglich sein" werde.

Doch bis dahin dürfte es dauern. Längst hatte sich abgezeichnet, dass der Brite nicht mit einem Scheidungsantrag im Aktenkoffer nach Brüssel kommen werde. Dass er sich dafür am gestrigen Abend, als der Premier mit den 27 Staats- und Regierungschefs über den Brexit diskutieren konnte, einige Vorwürfe anhören musste, war absehbar. "Wir wollen von David Cameron eine Einschätzung und Bewertung hören", drückte die Bundeskanzlerin ihre Erwartung aus. Weniger freundlich meinte ein hoher EU-Diplomat mit Blick auf Camerons Rücktritt im Oktober: "Der hat doch nichts mehr zu sagen."

Die EU fühlt sich unter Druck. Einerseits gab es viel Verständnis, dass es bis Anfang September dauern könne, ehe ein neuer Regierungschef feststehe. Dann dürften noch einmal einige Tage ins Land gehen, ehe das Kabinett im Amt sei. Frühestens zum EU-Gipfel im Oktober reche man mit einem offiziellen Austrittsgesuch nach Artikel 50 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Was die Vorarbeiten der Gemeinschaft für die dann notwendigen Verhandlungen noch einmal bis zum Dezember-Treffen verzögern würde.

"Das wird alles ziemlich eng. Und nichts ist schädlicher als Unsicherheit", meinte Schulz. Der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel klang weit weniger verständnisvoll: "Großbritannien will die Scheidung. Also gibt es die Scheidung. Warum dauert das so lang?" Dennoch zeigten sich die 27 verbleibenden Staats- und Regierungschefs keineswegs in gemeinsamer Trauerarbeit erstarrt. "Es ist eine Chance auch für uns, mehr Einigkeit zu zeigen", sagte Dalia Grybauskite. Kanzlerin Angela Merkel sprach gar von "wichtigen Themen", die man bei diesem Treffen voranbringen werde. Dazu gehören die Vorschläge der Kommission für eine europäische Zentrale zur Steuerung der Migration, vor allem aber die Gründung eines EU-weiten Grenz- und Küstenschutzes. Merkel: "Bei allem, was wir bedauern, sind das gute Nachrichten, die zeigen: Wir kommen voran, wir haben gelernt."

Tatsächlich fiel, von distanzierten und teilweise auch abwertenden Bemerkungen über den wachsenden Nationalismus in der Gemeinschaft, auf, dass es dieses Mal wenig nationales Imponiergehabe gab.

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