Briten sind stinksauer über parlamentarische Spesenreiterei

London. Die Briten stecken in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Krieg und ihre Parlamentarier "tief mit der Schnauze im Trog". Dies ist noch einer der mildesten Pressekommentare zu der Schamlosigkeit wie die "ehrenwerten Mitglieder des Unterhauses" ihre Spesen abrechneten

London. Die Briten stecken in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Krieg und ihre Parlamentarier "tief mit der Schnauze im Trog". Dies ist noch einer der mildesten Pressekommentare zu der Schamlosigkeit wie die "ehrenwerten Mitglieder des Unterhauses" ihre Spesen abrechneten.Der Skandal stinkt den Briten so wie die 550 Sack Viehmist, die der konservative Abgeordnete David Heathcoat-Armory zur Düngung seines Gartens den Steuerzahlern in Rechnung stellte. Andere Kollegen rechneten Kronleuchter und die Reinigung der Swimmingpools in ihren Häusern ab. Innenministerin Jacqui Smith reichte die Mietkosten für einen Pornofilm ein, den ihr Mann im Pay-TV genossen hatte. Und der Wissenschafts- und Technologiesprecher der Opposition erntete besonderen Spott und Hohn, weil er 125 Pfund (140 Euro) von der Staatskasse für die Handwerker forderte, die 25 Glühbirnen in seiner Wohnung auswechselten. Die englische Definition für einen völlig ungeschickten Menschen ist nämlich: "Er ist zu dumm, eine Glühbirne zu wechseln."Auch wenn Parlamentarier aller Parteien die absurdesten Dinge in Rechnung stellten: Am Ende fällt alles auf den sowieso schon glücklosen Premier Gordon Brown zurück. Einige sehen nur noch die Auflösung des Parlaments als gangbaren Weg aus dem Schlamassel. Auch ihm selbst wird vorgeworfen, dass seine Spesenabrechnung nicht ganz koscher sei. Der Regierungschef ließ sich 6000 Pfund (6685 Euro) für die Putzfrau vergüten, die er mit seinem Bruder teilt.Begonnen hat das Debakel um Abrechnungen von Zweitwohnungen so richtig am vergangenen Freitag, als die konservative Zeitung "Daily Telegraph" den ersten Schwung peinlicher Details ranghoher Labour-Abgeordneter veröffentlichte. Unter anderem kam heraus, dass eine Ministerin innerhalb eines Jahres drei verschiedene Zweitwohnungen anmeldete und diese auf Staatskosten renovieren ließ.Zwar erwägt die Polizei Ermittlungen, wie die Dokumente vor ihrer geplanten Veröffentlichung im Juli an die Presse kamen. Doch dies hielt die Zeitung nicht davon ab, tröpfchenweise die Briten über den Zustand der Moral ihrer Politiker zu unterrichten. Gestern kamen weitere skurrile Details ans Licht - diesmal traf es die Konservativen: So rechnete der Tory-Abgeordnete David Heathcoat-Amory beispielsweise zwei Pfund für Mäusegift, 1,95 Pfund für Sonnenblumensamen und fünf Pfund für einen Platten an einem Schubkarren ab. Drei weitere Tories ließen sich Reparaturen und Reinigungen ihrer Swimmingpools bezahlen.Dass sie hinterher alle versprachen, das Geld zurückzuzahlen, konnte auch nichts mehr reparieren. Der Ärger über "gierige" Politiker ist so groß wie der über ebensolche Banker. In neuen Umfragen sackten beide großen Parteien ab. Die regierende Labour-Partei verlor vier Punkte und kam auf nur noch 26 Prozent, die Konservativen rutschten ebenfalls vier Punkte ab, kamen aber immerhin noch auf 39 Prozent. Der konservative Politiker Lord Naseby erklärte, nur noch schnellstmögliche Neuwahlen könnten die "Grundfesten der Demokratie" retten. Dass sich Brown für das Fehlverhalten aller Parteien entschuldigte, half da nichts. Im Gegenteil: Es wurde ihm sofort zur Last gelegt, dass er erst am Montag "Sorry" sagte - einen Tag nach dem Chef der Konservativen, David Cameron. Dringend scheint aber nun vor allem eine Reform des diffusen und veralteten Systems der Abgeordneten-Bezüge. Parlamentarier im Unterhaus bekommen ein Jahresgehalt von rund 63 000 Pfund (70 200 Euro). Zudem dürfen sie Kosten für eine Zweitwohnung, wahlweise in ihrem Wahlkreis oder in London, sowie deren Reparaturen geltend machen. Doch, was genau eine Zweitwohnung ist und was als Reparatur zählt, legt jeder offenbar so aus, wie es ihm am besten passt. Die Krux dabei ist, dass die Abgeordneten auf diese Weise in den meisten Fällen nicht gegen das Gesetz verstoßen haben - wohl aber gegen die Moralvorstellungen der Bürger.

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