Birthler weist Vorwürfe um Stasi-Aufarbeitung zurück

Berlin. Die Leiterin der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, ist dem Verdacht entgegen getreten, ihr Haus vernachlässige die Aufklärung der Westspionage des ehemaligen DDR-Geheimdienstes. Dieses Thema habe im Gegenteil einen "hohen Stellenwert", sagte Birthler gestern bei der Vorstellung des aktuellen Bilanzberichts der Behörde in Berlin

Berlin. Die Leiterin der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, ist dem Verdacht entgegen getreten, ihr Haus vernachlässige die Aufklärung der Westspionage des ehemaligen DDR-Geheimdienstes. Dieses Thema habe im Gegenteil einen "hohen Stellenwert", sagte Birthler gestern bei der Vorstellung des aktuellen Bilanzberichts der Behörde in Berlin. Die Vorwürfe waren im Zusammenhang mit dem zufälligen Fund der Stasi-Akte über den früheren West-Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras laut geworden. Kurras hatte am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen. Die Tat wurde zum Fanal für die Studentenbewegung und später auch für den westdeutschen Terrorismus. In der Vorwoche kam heraus, dass Kurras damals als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) im Dienst der DDR-Staatssicherheit stand. Auf die Unterlagen war der Wissenschaftler der hauseigenen Forschungsabteilung, Helmut Müller-Enbergs, bei Recherchen über Todesfälle und Verletzungen an der innerdeutschen Grenze gestoßen. Laut Birthler hätte die Kurras-Akte "zu jedem Zeitpunkt" für interessierte Antragsteller wie etwa Journalisten zur Verfügung gestanden. Aber nicht einmal Autoren, die sich in Büchern mit dem Tod Ohnesorgs beschäftigten, hätten um Akteneinsicht gebeten, weil keiner auf die Idee gekommen sei, Kurras könne im Dienst der Stasi gestanden haben. Dass diese Information vorab in einigen wenigen Medien erschienen war, vermochte Birthler allerdings kaum schlüssig zu erklären. "Das hat mich nicht gefreut, weil das nicht der Stil unseres Hauses ist", räumte sie ein. Birthler und Müller-Enbergs wird ein gespanntes Verhältnis nachgesagt. Das zeigte sich zuletzt vor zwei Jahren, als ein von ihm verfasstes Referat auf einer Tagung zur Stasi in Dänemark verlesen wurde. Daraufhin wollte die Birthler-Behörde den Wissenschaftler entlassen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Fall Kurras hat mittlerweile zu einer Grundsatzdiskussion über Defizite bei der Aufarbeitung der Stasi-Aktivitäten im Westen geführt. Die Birthler-Behörde befasst sich damit zwar in mehreren Forschungsprojekten. Ihre Kapazitäten werden aber zum großen Teil durch das zuletzt wieder gestiegene Interesse an einer persönlichen Akteneinsicht vor allem von ehemaligen DDR-Bürgern gebunden. Dafür wurden allein 2007 mehr als 100 000 Anträge gestellt. Im laufenden Jahr verzeichnet Birthler bereits über 10 000 Anfragen pro Monat. Viele Akten zur Stasi-Tätigkeit in der alten Bundesrepublik seien noch nicht erschlossen, erklärte der zuständige Experte der Behörde, Georg Herbstritt, in einem Interview. "West-Berlin und die Stasi-Unterwanderung wäre zum Beispiel eine systematische Untersuchung wert". 1989 sei jeder vierte im Westen eingesetzte IM in West-Berlin tätig gewesen, erläuterte Herbstritt. Nach Einschätzung Birthlers hält der "Mainstream" im Westen das Stasi-Thema ausschließlich für eine ostdeutsche Angelegenheit. Dabei habe das Mielke-Imperium einen gesamtdeutschen Anspruch gehabt. Als klassisches Beispiel dafür gelten die vor drei Jahren bekannt gewordenen Untersuchungen über die Abgeordneten des sechsten Bundestages von 1969 bis 1972. In diesem Zeitraum waren über 40 Parlamentarier bei der Stasi registriert. Mindestens fünf kamen als IM in Betracht. Der Bundestag hatte aber keine weiteren Untersuchungen veranlasst. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) will das nun offenbar ändern: Angesichts des Falls Kurras sehe er "hinreichenden Anlass, diese Frage neu zu betrachten." Birthler mochte gestern nicht darüber spekulieren, ob die Stasi bei ihrer westlichen Wühlarbeit noch weitere Leichen im Keller hat. Nur so viel ist nach ihren Erkenntnissen sicher: Zum Attentäter Josef Bachmann, der ein Jahr nach dem Tod von Benno Ohnesorg den Studentenführer Rudi Dutschke angeschossen hatte und sich später selbst das Leben nahm, gibt es keine Stasi-Akte. "West-Berlin und die Stasi-Unterwanderung wäre zum Beispiel eine systematische Untersuchung wert." Georg Herbstritt,Experte der Birthler-Behörde

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort