Parteitag Bei der SPD riecht es nach Angst

Berlin · Der Parteitag stimmt nach harter Debatte für Sondierungen mit der Union. Schulz wird mit 81,9 Prozent wiedergewählt.

Es geht ums Ganze. Wenn man jedenfalls Gotthard Krupp glaubt, SPD-Genosse aus der Hauptstadt. Er verteilt vor dem Berliner Messegebäude ein Flugblatt. Von „Existenzkrise“ der SPD ist da die Rede. Krupp fordert einen „Befreiungsschlag“, die Erneuerung in der Opposition. Keine große Koalition, keine Minderheitsregierung, keine „ergebnisoffenen“ Gespräche mit der Union, wie sie Martin Schulz im Namen des Vorstands vorschlägt. Diese Stimmung der Basis ist die Hürde, die der Parteichef überwinden muss. Es gelingt ihm nur mit Mühe.

Krupp ist nicht allein. Viele Arbeitnehmervertreter haben sein Flugblatt unterzeichnet. „Wir werden uns zoffen“, hat Schulz schon am Vorabend beim Presseempfang geahnt. „Das wird ein harter Parteitag“, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller in seinem Grußwort, das ganz untypisch dann zur ernsthaften Rede wird. Er verlangt, „dass wir in den nächsten vier Jahren ausloten, ob es nicht eine Machtoption jenseits der Union gibt“. Er meint eine rot-rot-grüne Koalition. Alle suchen nach Auswegen aus der Zwickmühle, in der die SPD steckt.

Der Berliner Landesverband hat einen Antrag eingebracht, wonach es schon nach den ersten Sondierungen mit der Union einen Mitgliederentscheid darüber geben soll, ob die Gespräche weitergehen. Der Antrag wird später abgelehnt, es soll aber einen Sonderparteitag geben, bevor formelle Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden. Und dann den Mitgliederentscheid.

Kevin Kühnert, Juso-Chef, sagt offen, was hinter solchen Vorstößen steht, was auch ihn antreibt mit seinem Antrag, zwar mit den anderen Parteien zu reden, aber eben nicht „ergebnisoffen“. Sondern ohne die Möglichkeit einer großen Koalition. „Es gibt kein Vertrauen mehr, dass die Entscheidungen der Spitze den Interessen der Basis entsprechen.“ Kühnert ist, obwohl erst 28 Jahre alt, der heimliche Star des Parteitages, weil er hier Schulz’ härtester Gegenspieler ist. Auf Schritt und Tritt wird er von Kameras verfolgt. Und er redet gut. In der großen Koalition werde die SPD immer mehr „verzwergen“, sagt Kühnert. „Wir haben als junge Generation das Interesse, dass von unserer Partei noch etwas übrig bleibt“. Die Jusos jubeln und halten „Nogroko“-Schilder hoch.

Die Mitglieder der Parteiführung argumentieren dagegen. Stephan Weil, Niedersachsens Ministerpräsident, zitiert Willy Brandt: „Erst das Land, dann die Partei“. Hubertus Heil, scheidender Generalsekretär, betont, wenn man eine Option von vornherein ausschließe, dann sei man ganz schnell bei Neuwahlen. Und die wolle niemand. Fraktionschefin Andrea Nahles sagt, sie rieche Angst aus vielen Redebeiträgen. In Wirklichkeit sei doch Angela Merkel in einer schwachen Position. „Wir verschenken nichts.“ Nahles versaut sich allerdings ihren Auftritt, als sie hinzufügt: „Bätschi.“ Sie wiederholt das Wort „Bätschi“ sogar noch.

Martin Schulz gibt in seiner Rede seine „persönliche Garantie“, dass die Gespräche wirklich „ergebnisoffen“ geführt würden. Wie viel diese Garantie noch wert ist, ist allerdings die Frage. Schulz bekommt bei seiner Wiederwahl nur 81,9 Prozent Zustimmung, nach 100 Prozent im März. „Das Gefühl, dass Martin Schulz nicht die Perspektive der Partei ist, das macht sich doch langsam breit“, sagt ein lang gedienter Bundestagsabgeordneter. Schulz’ Rede, 75 Minuten lang, ist brav. Alle Themen sind drin. Aber es springt kein Funke über. Und über seinen Vorschlag, bis 2025 die „Vereinigte Staaten von Europa“ zu verwirklichen, - mit einem neuen Verfassungsvertrag, aber ohne die Staaten, die nicht mitmachen wollen - erntet bei vielen Europapolitikern in den eigenen Reihen Kopfschütteln. Viktoria Spiegelberg-Kamens, Gewerkschafterin aus Hessen-Süd, sagt Schulz ins Gesicht, sie habe das Gefühl, „dass das, was du sagst, nicht aus deinem Herzen kommt“. Spiegelberg hat auch bei Schulz Angst ausgemacht.

Die Debatte dauert fast fünf Stunden, 91 der rund 600 Teilnehmer melden sich. Viele Altvordere beobachten das Treiben von außen, und auch unter ihnen hat jeder eine andere Idee, wie die SPD aus der Zwickmühle herauskommt. Uwe-Karsten Heye, Ex-Regierungssprecher Gerhard Schröders, wäre für eine Minderheitsregierung. Gesine Schwan, Ex-Präsidentschaftskandidatin, wiederum ist dagegen. „Man wird uns die Misserfolge anhängen, Erfolge bleiben bei der Regierung.“ Markus Meckel, letzter DDR-Außenminister, ist für ein „Kenia“-Experiment. Union plus SPD plus Grüne. „Warum nichts Neues probieren?“ Und Wolfgang Nagel, früher Bausenator in Berlin, würde die große Koalition machen: „Es gehört mehr Rückgrat dazu, in harten Verhandlungen zu Kompromissen zu kommen, als der eigenen Partei nach dem Mund zu reden, damit wir uns in unserem Verein wohlfühlen.“ Die SPD ist tief verunsichert. Am Ende wird abgestimmt, der Leitantrag des Vorstandes setzt sich mit deutlicher Mehrheit durch. Nächste Woche findet das erste Gespräch mit der Union statt. Dann beginnt die große Reise ins Ungewisse.

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