Eriwan Armenien feiert einen Sieg und gedenkt seiner Geschichte

Eriwan · Der Jubel über den Rücktritt des Premiers, der sich dem Druck der Straße gebeugt hat, ist groß. Die Freude überlagert auch einen nationalen Trauertag.

Bis in die frühen Morgenstunden war Armeniens Hauptstadt auf den Beinen. Autokorsos schlängelten sich durch die Stadt, die Nacht wurde zum Tag. Hunderttausende feierten den Rücktritt des mächtigsten Mannes der Kaukasusrepublik Sersch Sargsjan. Zehn Jahre hatte er in Eriwan geherrscht und wollte die Amtszeit noch einmal verlängern. Die Verfassung ließ es nicht zu, so schlüpfte er vergangene Woche in die Rolle des Ministerpräsidenten, dessen Amt er vom Parlament mit den Befugnissen des Präsidenten ausstatten ließ. Damit begannen die Demonstrationen der Opposition, vor zehn Tagen auf dem Freiheitsplatz in der Hauptstadt. Von drei Millionen Einwohnern Armeniens beteiligten sich mindestens hunderttausend. Mit Erfolg.

Unerwartet trat Sargsjan am Montagnachmittag zurück. Er zeigte sogar Reue und zollte auch dem Herausforderer Nikol Paschinjan Respekt. „Ich lag falsch“, sagte er. Die Opposition klagte über Vetternwirtschaft, Korruption und mangelnde Transparenz. Dass ein führender Politiker in einem postsowjetischen Staat zurücktritt und auch noch Fehler eingesteht, ist sehr ungewöhnlich.

Beobachter sehen darin einen Reifeprozess in der kleinen Republik. Die Freude ist riesig. Auch bei den Ingenieurstudenten Aschot Adschamoglan und Artasch Marguyan, die bis in den Morgen auf dem Freiheitsplatz ausharrten und feierten. Für sie war der 63-jährige Politiker ein Gegner, aber kein Feind.

Das Volk hatte den Rücktritt erzwungen. Dennoch wurde Sargsjan nicht öffentlich zum Feind erklärt. Auch das könnte ein Moment eines gesellschaftlichen Reifeprozesses sein. Die Ingenieurstudenten würden sich für den oppositionellen Nikol Paschinjan als Nachfolger an der Staatsspitze entscheiden. Doch das ist längst noch nicht ausgemacht. Es wären auch andere Lösungen denkbar, sagen sie. Ihnen ist Erleichterung anzumerken, jedoch nicht, weil eine Tyrannei zu Ende geht. So schlimm sei es nicht gewesen, meinen sie einmütig. „Jetzt eröffnet sich jedoch wieder eine Zukunft, an die wir auch glauben können.“

Heute trifft sich der jahrelange Stellvertreter Sargsjans, Karen Karapetian, mit dem Oppositionellen, um über einen Umbau des Machtgefüges zu verhandeln.

Im Vorfeld war es die Hartnäckigkeit Paschinjans, die Sargsjan zum Rücktritt bewog. Noch 2008 waren bei Protesten gegen Sargsjans Präsidentenwahl zehn Demonstranten zu Tode gekommen. Daran erinnerte Sargsjan, es klang wie eine Drohung, noch am Sonntag, als er sich kurz mit dem Oppositionsführer traf, der ihn aber nur zum Rückzug aufforderte. Ein neues Blutvergießen am Vorabend des nationalen Feiertages am heutigen Mittwoch sollte indes vermieden werden. Die Armenier gedenken an diesem Tag an den Genozid des armenischen Volkes im Osmanischen Reich 1915.

Die „samtene Revolution“ nahm sich deshalb gestern einen Tag frei. Niemand demonstrierte mehr in der Innenstadt oder schwenkte Fahnen. Stattdessen zogen schon am Morgen Zehntausende zur nationalen Gedenkstätte auf den Hügeln Eriwans. Vertreter der Regierung und der apostolischen Kirche waren unter den ersten Pilgern. Am Rande kommentierte eine junge Frau, wie „volksnah die Elite sich doch plötzlich“ aufführe. Kolonnen von Soldaten und uniformierten jungen Leuten waren unter den Besuchern. Armenien zählt neben Israel zu einem der wehrhaftesten Staaten der Welt. Die Türkei als Bedrohung ist im armenischen Bewusstsein mehr als präsent. Die Auseinandersetzung um die Enklave Nagorny Karabach nach dem Ende der Sowjetunion, (armenisch Arzach), ließ alte Vorbehalte gegenüber den turksprachigen Azeris aus Aserbaidschan aufleben.

Bislang herrschte ein unumstößliches Gesetz in Eriwan: Wer in Armenien regieren will, muss sich Sporen im Konflikt um Arzach erworben haben. Der vertriebene Ex-Präsident Sargsjan war einst Kommandeur an der Front gewesen. Ob vom nächsten Ministerpräsidenten auch eine militärische Vita verlangt wird, ist einstweilen offen.

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