Nervengas Nowitschok Als der Alptraum nach Salisbury zurückkehrte
Salisbury · Es war das gleiche Nervengas, mit dem Ex-Doppelspion Skripal und seine Tochter angegriffen wurden: Ein britisches Paar hat sich offenbar versehentlich damit vergiftet. Scotland Yard ermittelt fieberhaft.
In dem hübschen Park bildeten sich vor wenigen Tagen noch lange Menschenschlangen vor dem Eisstand, auf dem Spielplatz tobten Kinder. Nun stehen Polizisten vor den abgesperrten Grünflächen des Queen Elizabeth Gardens im südenglischen Salisbury. Haben sich Dawn Sturgess und Charlie Rowley hier aus Versehen mit einem hochtoxischen Nervengas vergiftet?
Das Paar soll den Park am Freitag besucht haben. Schon am nächsten Morgen fühlte sich die 44-jährige Frau, die mit Alkoholproblemen kämpft, so unwohl, dass sie von Rettungskräften ins Krankenhaus gebracht wurde. Kurz darauf zeigte auch Rowley, ein Heroin-Abhängiger, Symptome. Ein Nachbar schilderte gegenüber Medien, der 45-Jährige habe „seltsame Geräusche von sich gegeben, extrem geschwitzt, aus dem Mund geschäumt und wie ein Zombie agiert“, bevor er bewusstlos zusammengebrochen sei. Eine Überdosis Drogen?
Am Mittwochabend verkündete Neil Basu, Chef der britischen Anti-Terror-Einheit, dann aber eine weitaus beunruhigendere Nachricht: Die beiden kamen in Kontakt mit Nowitschok. Sie kämpfen derzeit im Salisbury District Hospitalum um ihr Leben. Das Vereinigte Königreich reagiert geschockt auf die Nachricht, dass ein britisches Paar offenbar mit dem gleichen Gift in Berührung geriet wie im März der russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia. „Es wirkt wie ein wiederkehrender Albtraum“, sagte ein Bewohner des Touristenstädtchens. Die Skripals wurden damals auf einer Parkbank vor einem Einkaufszentrum entdeckt, mittlerweile geht es ihnen wieder besser.
Die Briten machen Moskau für die damalige Attacke verantwortlich. Der Kreml bestreitet das vehement. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern – ohnehin bereits auf einem Tiefpunkt – dürften nun erneut auf die Probe gestellt werden. Bereits gestern kündigte Innenminister Sajid Javid an, sich mit den internationalen Partnern und Verbündeten über eine mögliche Reaktion zu beraten. Moskau müsse erklären, „was genau geschehen ist“, forderte er mit scharfen Worten im Parlament. Es sei völlig inakzeptabel, dass „unsere Bevölkerung, ob absichtlich oder versehentlich, zu Zielscheiben würden oder unsere Straßen, unsere Parks, unsere Städte als Abladeplatz für Gift“ genutzt würden. Premierministerin Theresa May nannte den Fall „zutiefst verstörend“. Die Sprecherin des russischen Außenministers rief die Polizei derweil auf, sich nicht vom „schmutzigen politischen Spiel“ leiten zu lassen.
Abermals durchforsten Experten in Schutzanzügen die damals betroffene Gegend in Salisbury, genauso wie das Haus in der rund zwölf Kilometer entfernten Gemeinde Amesbury, in dem Charlie Rowley lebt. Seine Freundin wohnt in einer Herberge in Salisbury, die nahe des Restaurants liegt, in dem die Skripals vor ihrem Kollaps aßen.
Man bewerte den Vorfall als „schwerwiegend“, hieß es von den Behörden. Neben der lokalen Polizei der Grafschaft Wiltshire ermitteln rund 100 Beamte der britischen Anti-Terror-Abwehr von Scotland Yard. Bislang deute nichts darauf hin, dass die beiden Opfer „auf irgendeine Weise gezielt angegriffen“ wurden. Ob es sich tatsächlich um die identische Substanz handelt, die bei der Attacke auf die Skripals verwendet wurde, wird derzeit im staatlichen Labor Porton Down geklärt. Chemiewaffenexperten hatten das Nervengas damals als einen chemischen Kampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe identifiziert, der in der früheren Sowjetunion entwickelt worden war.
Das Risiko für die Öffentlichkeit sei gering, hieß es zwar wie bereits im März von den Behörden. Doch die Menschen in und um Salisbury sorgen sich um ihre Sicherheit und haben Angst. So sind etliche Orte wie eine Kirche, eine Apotheke, das Wohnhaus und Parks, die das Paar besucht hat, abgesperrt und werden untersucht. Gleichzeitig ist die Öffentlichkeit angehalten, keine herumliegenden unbekannten Gegenstände oder ohnehin gefährliche Objekte wie Nadeln und Spritzen aufzuheben oder zu berühren. Zudem wurde besorgten Anwohnern empfohlen, als Vorsichtsmaßnahmen ihre Kleider zu waschen, unter Umständen Telefone, Handtaschen und Gürtel mit Feuchttüchern abzuwischen.