Afrika Ein Kontinent zwischen Chancen und Chaos

Brüssel · Die Schritte sind holprig, aber Afrika kommt. China hat das Potenzial längst für sich entdeckt. Und die EU? Die will jetzt versuchen, mitzuhalten.

 Das Reich der Mitte weiß, wo das Potenzial liegt: In Ruanda arbeiten Frauen für die chinesische Bekleidungsfirma G&H Garments.

Das Reich der Mitte weiß, wo das Potenzial liegt: In Ruanda arbeiten Frauen für die chinesische Bekleidungsfirma G&H Garments.

Foto: dpa/Kristin Palitza

Wenn Gerd Müller auf Afrika angesprochen wird, wählt er gerne deutliche Worte: „Die in Brüssel haben immer noch nicht verstanden, was da auf uns zukommt“, sagte der deutsche Bundesminister für Entwicklungszusammenarbeit, als er vor einigen Wochen den ersten Haushaltsentwurf der EU für die sieben Jahre nach 2021 in den Händen hielt. Statt 31 sollen dann 32 Milliarden Euro für Afrika ausgegeben werden. Müller: „Ein Regentropfen.“ Das stimmt vor allem im Vergleich zum derzeit mächtigsten Partner der Afrikaner. China hat erst vor wenigen Wochen angekündigt, 60 Milliarden Dollar (rund 51,5 Milliarden Euro) zu investieren. Darunter sind nicht nur Ausgaben für Häfen, Airports, Straßen oder sonstige strategisch wichtige Vorhaben. Als Staatschef Xi Jinping vor einigen Monaten den Senegal besuchte, weihte er auch einen Museumsneubau und ein Nationaltheater mit 1800 Plätzen ein. Die Partnerschaft zwischen den 54 afrikanischen Staaten und China beruht auf weitaus mehr als nur eigennützigen Investitionen: 2015 waren an chinesischen Universitäten mehr afrikanische Studenten immatrikuliert als an US-amerikanischen und britischen Hochschulen zusammen. Der amerikanische Afrikanist Stephen Smith nennt die Gründe für die Offenheit Pekings: „Afrikaner sehen in China einen ehemaligen Underdog, dem es innerhalb von zwei Generationen gelang, in die weltpolitische Elite aufzusteigen.“ Das will Afrika auch schaffen.

Vor diesem Hintergrund wirkt Europa weit abgeschlagen. Zwar gab es auch immer wieder Initiativen wie die Mittelmeer-Union des früheren französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. Doch daraus ist kaum mehr als ein Beschäftigungsprogramm für Diplomaten und elitäre Zirkel geworden. Am Freitag gab es nun einen neuen Aufschlag, nachdem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede „Zur Lage der EU“ zwei Tage vorher Afrika als einen der wichtigsten Schwerpunkte für die Union benannt hatte. „Europa und Afrika haben viele gemeinsame Interessen“, erklärte die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini. Soll heißen: Die Gemeinschaft will „strategische Investitionen“ möglich machen, den Privatsektor stärken und mehr für die Bildung tun. Konkret sieht das so aus: 35 000 Studenten werden bis 2020 über das Austauschprogramm Erasmus+ gefördert und können an Hochschulen in den EU-Mitgliedstaaten ihre Ausbildung fortsetzen. 70 000 weitere sollen bis 2027 folgen. 30 Millionen Afrikaner werden Zugang zu Strom erhalten, 24 Millionen Menschen können von Investitionen in das Straßennetz profitieren, 3,2 Millionen Arbeitsplätze würden durch Investitionsprogramme in kleine und mittelständische Betriebe entstehen. Mogherini: „Wir werden echte Wirtschaftspartner.“

Das dürfte Musik in den Ohren von Gerd Müller sein, der sich bisher eher als Rufer in der Wüste fühlte. „Öffnet die Märkte für alle afrikanischen Güter“, hatte er vor kurzem gefordert. Einiges davon gibt es längst. Das EU-Programm „Alles außer Waffen“ ermöglicht den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt seit 2001 komplette Zollfreiheit für Ausfuhren in die EU. Das sind allein in Afrika 32 Staaten. 2016 exportierten die Länder des Kontinents zwar 116,7 Milliarden Euro in die EU – sieben Prozent der Einfuhren in die Union. Doch die Tendenz war fallend. Das liegt allerdings weniger an Importzöllen oder den subventionierten Produkten für europäische Landwirte, die jeder Konkurrenz das Leben schwer macht. Ein weiterer wichtiger Grund sind die hohen Verbraucherstandards, die afrikanische Hersteller nicht erreichen. So gewinnt das Modell „Binnenmarkt à la EU“ in Afrika immer mehr an Beliebtheit.

Inzwischen sind die Vorarbeiten für die Freihandelszone CFTA (Continental Free Trade Africa) nach europäischem Vorbild fast abgeschlossen. Ein Großteil will tun, was Europa längst erreicht hat: 90 Prozent der Zölle und Importabgaben zwischen den afrikanischen Ländern sollen gestrichen werden. Der gemeinsame Verbund unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU) könnte ein Handelsvolumen von etwa 6,6 Billionen Euro pro Jahr bringen – das wäre fast so viel, wie auch die EU auf dem Binnenmarkt erwirtschaftet. Die Stellung der AU wäre massiv gestärkt. Die Vorbereitungen für einen gemeinsamen afrikanischen Reisepass laufen. China verspricht sich einen gewaltigen Markt.

Die Europäer wünschen sich von steigendem Wohlstand in erster Linie ein Nachlassen der Flüchtlingsbewegungen. Doch so weit ist Afrika noch lange nicht. Zu gravierend die Liste der Probleme: von Stammesfehden, Kriegen und Terroristen-Banden wie Boko Haram ganz abgesehen. In einer Studie unter dem Titel „Wissenschaft für die EU-Afrika-Partnerschaft“ haben Experten in Brüssel festgestellt: Derzeit leben 1,2 Milliarden Menschen in Afrika. 2050 dürften es 2,5 Milliarden sein. Jeder vierte Weltbürger hätte dann afrikanische Wurzeln.

Die Zahl der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren nimmt Schätzungen zufolge zwischen 2015 und 2030 um 44 Prozent zu. Rund die Hälfte der Bewohner lebt höchstens 100 Kilometer von einer Küste entfernt – und ist damit den Folgen des Klimawandels direkt ausgeliefert. Der wird den Kontinent massiv treffen – von einer durchschnittlichen Erhöhung der Temperatur um 3,5 Grad in den nächsten Jahrzehnten gehen Forscher aus. Es fehlen die wichtigsten Strukturen für Wasser, Sanitärwesen, Bildung und Verkehr. Der Verbrauch an Wäldern eskaliert, weil andere Brennmaterialien kaum verfügbar sind, was zu einer weiteren Ausdehnung der Wüsten führen dürfte.

Viele Böden sind durch kurzsichtige Landwirtschaftshilfe chemisch ausgelaugt. „Wir haben vielversprechende Ansätze, aber wir sind von Lösungen, die die Realität Afrikas verändern, Jahrzehnte entfernt“, sagte ein hochrangiges Mitglied der EU-Kommission. Es gibt Hoffnungsschimmer wie Ghana, das Kanzlerin Angel Merkel kürzlich besuchte. Dort wurden zahlreiche Wirtschafts- und Demokratie-Reformen durchgezogen und Zölle gestrichen. Zusammen mit dem Senegal genießt das Land den Ruf eines Vorbilds. Entwicklungshilfeminister Müller sprach gar von einem „Chancenkontinent“. Dieser müsste eigentlich auch für europäische und deutsche Investoren reizvoll sein.

 Er sieht in Afrika schon länger großes Potenzial: Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU)

Er sieht in Afrika schon länger großes Potenzial: Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU)

Foto: Kay Nietfeld/dpa/Kay Nietfeld

Die EU-Kommission hat nun die Aufmerksamkeit erneut auf Afrika gelenkt. Noch im Dezember will die politische Spitze zu einem erneuten EU-Afrika-Gipfel einladen – es ist der Versuch, verloren gegangenes Terrain endlich wieder gut zu machen. Und vielleicht doch die Fluchtbewegungen einzudämmen. Aber das scheint eher ein Rezept der Zukunft.

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