Gewalt gegen Kinder 4000 Kinder werden in Deutschland misshandelt – mindestens

Ulm · Von Thomas Burmeister

„Das Mädchen ist 14“, sagt der Arzt am anderen Ende der Leitung. „Hämatome an Armen und Oberschenkeln. Es war wohl der Onkel. Ich sollte die Jugendhilfe einschalten – oder gleich die Polizei?“ Der Fall ist fiktiv, aber solche Anrufe gehören für die Ärzte am Telefon der Kinderschutzhotline ganz real zum Alltag. Die Helfer wissen, was viele ihre Kollegen in Kliniken, Notaufnahmen und Hausarztpraxen oder in der Psychotherapie im Zweifelsfall nicht sofort parat haben: Wie sollen, dürfen oder müssen Ärzte reagieren, wenn sie bei Kindern Hinweise auf Misshandlung oder Missbrauch bemerken? Im Sommer vor einem Jahr nahm die aus Bundesmitteln geförderte Kinderschutzhotline ihren Betrieb auf.

Ziel ist unter anderem, das Wissen der Mediziner und die Kommunikation mit Behörden wie Jugendämtern zu verbessern. Entwickelt wurde die bundesweite Medizinische Kinderschutzhotline von Professor Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn die mangelnde Kommunikation ist Experten zufolge mit ein Grund dafür, dass so viele Fälle von Gewalt an Kindern gar nicht erst aktenkundig werden.

Die Nachfrage in der Hotline belege den hohen Bedarf an Beratung, sagen die Verantwortlichen. Und sie zeigt exemplarisch, wie Gewalt gegen Kinder Ärzte und auch Behörden regelmäßig beschäftigt – noch 18 Jahre, nachdem Gewalt in der Erziehung in Deutschland per Gesetz verboten wurde.

Die Zahlen zeigen es: 2016 führten die Jugendämter nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 136 900 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch – ein Anstieg um 5,7 Prozent. 45 800 Fälle wurden als akute oder latente Kindeswohlgefährdung eingestuft. Um sexuelle Gewalt ging es in 4,4 Prozent der Fälle. Am häufigsten, in rund 61 Prozent der Fälle, ging es um Vernachlässigung. Die Dunkelziffern der Zahlen liegen aber höher, mutmaßen Experten.

Diesen Hinweis gab im vergangenen Jahr auch die Deutsche Kinderhilfe, die unter Berufung auf die polizeiliche Kriminalstatistik von einem Anstieg an Gewalt gegen Kinder berichtete. Demnach starben 2016 in Deutschland pro Woche drei Kinder an den Folgen von Gewalt. 133 Kinder unter 14 Jahren wurden demnach ermordet, totgeschlagen oder tödlich verletzt, rund ein Viertel während eines Streits in der Familie. 2015 waren es 130 Fälle gewesen. Zudem gab es 2016 genau 4237 erfasste Misshandlungen, 33 versuchte. Etwa sieben Prozent mehr als im Jahr davor. Mehr als 14 000 Kinder wurden Opfer sexueller Gewalt. Zumindest offiziell.

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