Steinbrück entdeckt den „Merkel-Makel“

Berlin · Europa sei ihr keine Herzensangelegenheit. Der Kanzlerin mangele es an der notwendigen Leidenschaft. Das will SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück entdeckt haben und muss nun seinerseits Kritik einstecken.

Schon oft wurde in der SPD-Spitze diskutiert, wie mit Angela Merkel umzugehen sei. Die Debatten endeten meist mit drei Erkenntnissen: Erstens sie nicht als Frau angreifen - das weckt nur die Solidarität der weiblichen Wähler. Zweitens sie nicht als Ostdeutsche angreifen - sonst kann man den Wahlkampf in den neuen Ländern vergessen. Und drittens: Sie nicht persönlich angreifen - weil sie so beliebt ist. Peer Steinbrück ist nun davon abgewichen. Und hat prompt Ärger.

Bei einer Diskussionsveranstaltung des Berliner "Tagesspiegel" kritisierte der SPD-Kanzlerkandidat am Sonntag die Euro-Politik Merkels. Der Kanzlerin fehle es an Leidenschaft für Europa, fand Steinbrück und wusste dafür auch eine Erklärung: Weil Merkel im Osten Deutschlands aufgewachsen sei, stehe ihr Europa ferner als einem, der in Westdeutschland aufgewachsen sei. Er mache ihr daraus keinen Vorwurf, schließlich habe sie sich nicht aussuchen können, wo sie aufwachsen wollte. Aber: "Ich halte daran fest: Die Tatsache, dass sie bis 1989/90 eine ganz andere persönliche und politische Sozialisation erlebt hat, spielt in meinen Augen schon eine Rolle."

Dass die CDU in Gestalt ihres Generalsekretärs Hermann Gröhe sofort dagegen keilte, war zu erwarten. "Steinbrück beleidigt Millionen Menschen in der DDR und in ganz Mittel- und Osteuropa", sagte Gröhe und forderte eine Entschuldigung. Überraschender war da schon, wie hart der sonst zurückhaltende Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU), reagierte. Der frühere Ministerpräsident Sachsen-Anhalts sprach unserer Zeitung gegenüber von einer "Brüskierung der ehemaligen DDR-Bürger" und wurde seinerseits ebenfalls persönlich: Das Jahr 1990 sei für die große Mehrheit der Ostdeutschen von dem leidenschaftlichen Wunsch geprägt gewesen, die Wiedervereinigung zu erreichen und zur EU zu gehören. "Ich weiß nicht, ob Herr Steinbrück in seinem Leben auf vergleichbare Phasen politischer Leidenschaft zurückblicken kann." Auch die Linkspartei griff die Steilvorlage auf. Von einer "bodenlosen Geschichtsfälschung" und einer "Diffamierung, die aus den Abgründen des Kalten Krieges stammt", sprach die Linken-Vorsitzende Katja Kipping. "Wenn die Menschen im Osten vor 24 Jahren nicht auf die Straße gegangen wären, gäbe es heute östlich der Elbe kein EU-Land, und Herr Steinbrück könnte hier nicht herumlaufen und Wahlkampf machen." Kipping forderte ebenfalls eine Entschuldigung. Selbst die Spitzenkandidatin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, widersprach dem möglichen künftigen Koalitionskanzler, wenn auch zurückhaltend. Zwar stimme, das Merkel die Europapolitik "kalt" betreibe, sagte die 47-jährige gebürtige Thüringerin. Doch mit der Herkunft der Kanzlerin wollte sie das nicht erklären. Die Ostdeutschen seien ein Teil von Europa und hätten Osteuropa erst in die Gemeinschaft eingebracht. "Da erst war Europa vollständig."

Schweigen herrschte indes bei der SPD. Auf Anfragen reagierte nur die Sprecherin der ostdeutschen SPD-Bundestagsabgeordneten, Iris Gleicke, mit einer diplomatischen Formulierung: Grundsätzlich sei es gut, wenn auch mal mit provokanten Äußerungen über Europa eine Diskussion angestoßen werde. "Ich teile Peer Steinbrücks Auffassung, dass es in Deutschland derzeit zu wenig Leidenschaft für Europa gibt, und dass gilt für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen." Das hatte Steinbrück freilich genau nicht gesagt.

Der Vorgang erinnert an einen ähnlichen Wahlkampf-Fauxpas, der 2002 dem damaligen Unions-Spitzenkandidaten Edmund Stoiber (CSU) passierte und ihm Stimmen in den neuen Ländern kostete. Er hatte gesagt: "Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Es darf nicht sein, dass die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen." Damals forderte die SPD sogleich eine Entschuldigung.

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