Direkte Demokratie Aktivisten sehen Zeit reif für Volksentscheide

Berlin/Saarbrücken · Ein Bündnis aus rund 30 Organisationen kämpft um die Einführung von direkter Demokratie auf Bundesebene. In einem Koalitionsvertrag von Union, FDP und Grünen sollen Volksentscheide verankert werden.

 Mit schwarzen, gelben und grünen Luftballons demonstrierte die Organisation „Mehr Demokratie“ zum Start der Jamaika-Sondierungen für bundesweite Volksentscheide im Koalitionsvertrag.

Mit schwarzen, gelben und grünen Luftballons demonstrierte die Organisation „Mehr Demokratie“ zum Start der Jamaika-Sondierungen für bundesweite Volksentscheide im Koalitionsvertrag.

Foto: dpa/Michael Kappeler

(SZ/afp/kna/dpa) Schwarze, gelbe und grüne Ballons steigen am Berliner Reichstag auf. Es ist der Tag, an dem die Sondierungen für die bundesweit erste Jamaika-Koalition beginnen. Die Politik geht neue Wege – gezwungenermaßen, weil das Ergebnis der Bundestagswahl am 24. September nicht viel anderes zulässt. Neue Wege will auch der Verein „Mehr Demokratie“ beschreiten, der hinter der Luftballon-Aktion steckt. Er führt ein breites Bündnis aus rund 30 zivilgesellschaftlichen Organisationen an, das die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene in den neuen Koalitionsvertrag bringen möchte. Darunter sind etwa die Verbraucherschützer von Foodwatch, die Umweltschutzorganisation BUND oder der Bund der Steuerzahler.

„Jetzt ist Zeit: Volksentscheid. Bundesweit.“ lautet der Titel der Kampagne. Die Initiatoren wollen folgende Formulierung im Koalitionsvertrag lesen: „Die Koalition strebt eine Grundgesetzänderung an, mit der Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene eingeführt werden.“ Für dieses Ziel haben bereits mehr als 226 000 Menschen unterschrieben.

Nach Ansicht des Bündnisses ist die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie um bundesweite Volksabstimmungen überfällig, um Reformen auf den Weg zu bringen und den Bürgern die Mitbestimmung auch zwischen den Wahlen zu ermöglichen. „Demokratie heißt vertrauen, vor allem uns selbst“, erklärte Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von „Mehr Demokratie“. „Nur alle vier Jahre wählen ist eine Unterforderung der Bürger und der Demokratie“. Der Verein, der sich seit seiner Gründung im Jahre 1988 für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung einsetzt, hat insgesamt 14 Landesverbände, darunter auch einen im Saarland. Der hiesige Vorstandssprecher von „Mehr Demokratie“, Thomas Gretscher, sieht große Erfolgschancen für die Kampagne: „Die Zeit ist einfach reif.“ Denn außer der CDU hätten sich alle Parteien in ihren Grundsatzprogrammen für bundesweite Volksentscheide ausgesprochen.

Zudem fordern CSU, Grüne, Linke und AfD auch in ihren aktuellen Wahlprogrammen ausdrücklich bundesweite Plebiszite. „Wir wollen in wichtigen politischen Fragen bundesweite Volksentscheide einführen“, heißt es etwa im Bayernplan, dem eigenständigen Programm der CSU. Die Forderung gehört sogar zu den sechs Punkten, für die die Partei garantiert, dass sie im nächsten Koalitionsvertrag verankert werden. Dafür werden allerdings harte Verhandlungen notwendig sein: Die Schwesterpartei CDU verweist im Grundsatzprogramm ausdrücklich auf die „repräsentative Demokratie, die politische Führung und demokratische Verantwortung miteinander verbindet“. Politische Entscheidungen sollen auf Bundesebene also weiterhin gewählte Abgeordnete treffen. Dies schließe „unmittelbare Demokratie“ aber nicht aus, die das parlamentarische System „auf den regionalen Ebenen sinnvoll ergänzen“ könne.

Beim potenziellen Koalitionspartner FDP ist die Situation etwas komplizierter. Zwar plädieren die Liberalen in ihrem Grundsatzprogramm für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auch auf Bundesebene, im Wahlprogramm ist allerdings lediglich vom „probeweisen Ausbau von Instrumenten der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene und Landesebene“ die Rede. Zudem lehnt Parteichef Christian Lindner bundesweite Volksentscheide ab. „Die FDP ist in ihrem Programm offen für die direkte Demokratie, ich bin es nicht“, sagte er kurz vor der Wahl. Die repräsentative Demokratie in Deutschland habe sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. „Deshalb würde ich sagen, lassen wir die Verfassung so wie sie ist.“

Die SPD, die im Grundsatzprogramm klar für bundesweite Volksentscheide ist, spricht im Wahlprogramm vage davon, die „direkte Demokratiebeteiligung auf Bundesebene“ zu stärken.

Die Ablehnung von Volksentscheiden sei bei Politikern oft auf die Angst vor der eigenen Entmachtung zurückzuführen, mutmaßt Gretscher. „Dabei ist das gar nicht das Ziel“, versichert der Saar-Vorsitzende von „Mehr Demokratie“. Er sieht plebiszitäre Elemente als „wichtige Ergänzung“ zur repräsentativen Demokratie, als eine Art Kontrollinstanz, damit die im Alltag Regierenden nicht einfach etwas beschließen, was die Mehrheit des Volkes nicht will. Es gehe auch darum, inhaltliche Alternativen anzubieten. Das Grundgesetz stehe dabei ganz klar auf der Seite der Befürworter der direkten Demokratie, argumentiert Gretscher: In Artikel 20 stehe schließlich, das die Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ vom Volk ausgeübt werde.

Plebiszit-Gegner legen diesen Passus jedoch anders aus und sehen in der repräsentativen Demokratie die Prinzipien der Volkssouveränität erfüllt. Den Bedenkenträgern geht es oft um ganz praktische Erwägungen: Politische Entscheidungen seien komplex. Meistens ließen sie sich nicht auf ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ reduzieren. Gretscher hält dagegen: Auch im Bundestag laute die Entscheidung über Gesetzesentwürfe am Ende immer „Ja“ oder „Nein“. Wichtig sei es, vor einem Plebiszit eine breite inhaltliche Debatte anzustoßen und die Wähler ausreichend zu informieren.

Außerdem: Auf Länderebene gibt es längst Volksentscheide. Allerdings sind die Hürden unterschiedlich hoch. Nach einem Länder-Ranking von „Mehr Demokratie“ belegt das Saarland, trotz einiger Reformen in den vergangenen Jahren, dabei weiterhin den letzten Platz. Der Verein beklagt unter anderem, dass finanzwirksame Themen nur mit sehr geringen Auswirkungen zulässig sind. Auch die Quoren sind weiterhin recht hoch, wurden zuletzt allerdings bereits deutlich abgesenkt: So braucht ein Volksbegehren, das letztlich zu einer Volksabstimmung führen kann, die Unterschrift von sieben Prozent der Wahlberechtigten – das sind gut 54 000 Saarländer. Bis 2013 waren es 20 Prozent. Was Gretscher allerdings besonders kritisiert: Die Bürger müssen dafür extra ins Rathaus gehen. Die freie Sammlung von Unterschriften ist nicht möglich. Das erschwert auch das aktuell angestrebte Volksbegehren für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Gretscher beklagt, dass Bürger nur zu den Öffnungszeiten der Rathäuser abstimmen können. Zudem gebe es zum Beispiel in ganz Saarbrücken nur ein einziges Büro, wo G9-Befürworter sich eintragen können. „Das sind erhebliche Hindernisse“, sagt Gretscher. Ist das Volksbegehren dennoch erfolgreich, kommt es zu einem Volksentscheid, wenn der Landtag das Gesetz ablehnt. Dabei müssen dann eine Mehrheit der Teilnehmer und mindestens 25 Prozent (früher waren es sogar 50 Prozent) aller Wahlberechtigten zustimmen.

„Mehr Demokratie“ will die Saarländer in den kommenden Wochen mit Flyern und an Infoständen zur Unterschrift für G9 animieren. Ein Votum ist noch bis zum 3. Januar möglich. Werben will der Verein auch im Saarland zudem um Unterschriften für bundesweite Volksentscheide – und damit den Druck auf die Jamaika-Partner erhöhen.

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