Im Notfall wieder Kontrollen

Brüssel · Die Reisefreiheit in der EU gilt als hohes Gut. Künftig wird es aber mehr Ausnahmen geben, unter denen Staaten ihre Grenzen wieder kontrollieren dürfen. Im äußersten Notfall sogar für zwei Jahre.

Als die Forderung vor zwei Jahren zum ersten Mal erhoben wurde, unterstellte man den Befürwortern einen Anschlag auf die Reisefreiheit in Europa. In der Nacht zum Donnerstag einigten sich die Unterhändler der Mitgliedstaaten, der EU-Kommission und des Europäischen Parlamentes auf eben diesen Tabu-Bruch: Im "äußersten Notfall" dürfen Mitgliedstaaten künftig wieder die Schlagbäume herunterlassen - für immerhin zwei Jahre. Doch die einschneidende Maßnahme wurde an scharfe Bedingungen geknüpft. Manfred Weber (CSU), stellvertretender Chef der konservativen EVP-Fraktion: "Es wurden deutlich höhere Standards als bisher durchgesetzt."

Derzeit können Mitgliedstaaten bei Großveranstaltungen für höchstens 30 Tage, im Falle eines Terror-Verdachts für zehn Tage wieder Einreise-Kontrollen durchführen. Eine Information nach Brüssel reicht. Künftig bekommt die EU-Grenzschutzagentur Frontex eine Schlüsselrolle: Ihre Ermittler sollen (auch unangemeldet) Kontrollen durchführen, um festzustellen, ob die von einem der 26 Schengen-Staaten (22 EU-Länder plus Norwegen, Schweiz, Island und Liechtenstein) beklagte Notsituation auch wirklich vorliegt. Die Kommission entscheidet dann, ob die Kriterien erfüllt sind. Denkbar wäre, so hieß es gestern in Brüssel, eine Flüchtlingswelle, wie sie infolge des Arabischen Frühlings beobachtet wurde. Weber: "Angriffe auf die Freizügigkeit, wie wir sie von Italien, Frankreich oder Dänemark erlebt haben, sind abgewehrt. Künftig ist der europäische Blick entscheidend."

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström lobte den Kompromiss ebenfalls, obwohl sie mit ihrer Forderung nach einer noch zentraleren Rolle der Kommission gescheitert war: "Wir überwachen, auch durch Besuche vor Ort, dass die Staaten ihre Verpflichtungen erfüllen und nicht ungerechtfertigt Grenzen kontrollieren." Die Reform werde den Schengen-Raum "zum Wohl der Bürger" stärken. Entscheidend dürfte wohl auch sein, ob alle Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen und nicht versuchen, ihre Lasten auf die Schultern anderer zu verlagern.

Erst am Mittwoch waren Berichte bekannt geworden, denen zufolge italienische Behörden hunderte afrikanischer Flüchtlinge mit 500 Euro und einem Touristenvisum ausgestattet und nach Deutschland weitergeschickt hatten. Schon auf dem Höhepunkt der Fluchtwelle aus den nordafrikanischen Umbruchsstaaten leerten römischen Behörden ihre Flüchtlingslager, indem sie die Asylbewerber ohne Einzelfallprüfung mit EU-Touristenvisum Richtung Frankreich, Dänemark und Bundesrepublik ausreisen ließen. Die Binnenstaaten der EU, die wie Deutschland keine EU-Außengrenze zu überwachen haben, lassen den Vorwurf der ungleichen Lastenverteilung nicht gelten. Schließlich bekommen die Küstenländer jährlich etliche Millionen Euro, um humane Aufnahmemöglichkeiten zu schaffen und die von Brüssel geforderten Einzelfallprüfungen durchzuführen.

Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten haben Einheiten für die Grenzschutzagentur Frontex abgestellt, um die Arbeit der Einreiseländer zu erleichtern. Auch deutsche Beamte sind an den Mittelmeer-Anlaufstellen im Einsatz. Ob und wann ein Notfall, der zur zeitweisen Grenzschließung berechtigt, vorliegt, müsse jetzt die Praxis zeigen, hieß es gestern.

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