Seenotretter ziehen sich zurück Gespenstische Stille auf dem Mittelmeer 

Rom · Viele Hilfsorganisationen haben ihre Aktionen unterbrochen. Berichte über volle Schlauchboote gibt es derzeit nicht. Italien ist zufrieden.

 Alain Theo Fredonic (siehe auch unten stehenden Artikel) hebt ein Kind aus einem Flüchtlingsboot an Bord. Er gehört zur Besatzung der „Aquarius“, einem der letzten Rettungsschiffe vor der Küste Libyens.

Alain Theo Fredonic (siehe auch unten stehenden Artikel) hebt ein Kind aus einem Flüchtlingsboot an Bord. Er gehört zur Besatzung der „Aquarius“, einem der letzten Rettungsschiffe vor der Küste Libyens.

Foto: dpa/Narciso Contreras

Es gab Tage, da kreuzten bis zu zehn Rettungsschiffe gleichzeitig im Kanal von Sizilien, um Flüchtlinge aus seeuntüchtigen Schlauchbooten aufzunehmen. Gestern waren gerade einmal zwei Rettungsschiffe vor der libyschen Küste unterwegs. In etwa 20 Seemeilen Abstand zur Küste kreuzte die Aquarius der Organisation SOS Méditerranée sowie die Golfo Azzurro der spanischen Hilforganisation Proactive Open Arms in den Gewässern nordwestlich von Tripolis. Sieht man vom Handelsverkehr ab, dann wirkt das Mittelmeer vor Libyen in diesen Tagen beinahe wie verwaist. Auch Berichte über mit Flüchtlingen vollgestopfte Schlauchboote, die von der Küste ablegen, gibt es dieser Tage nicht. Etwa 2000 Immigranten haben seit Anfang August Italien von Libyen aus über das Mittelmeer erreicht, in den vergangenen Tagen gab es kaum Abfahrten.

Im Juli kamen noch etwa 11 500 Flüchtlinge über die zentrale Mittelmeerroute, im Juni gar noch rund 23 000. Die Tendenz ist eindeutig. Auch der Aktionsradius der Nichtregierungsorganisationen (NGO) scheint sich nach entsprechenden Maßnahmen der italienischen Regierung in Zusammenarbeit mit Libyen nachhaltig verringert zu haben. Dazu zählt ein vom Innenministerium vorgelegter sogenannter Verhaltenskodex für die NGOs, strengere Kontrollen durch die libysche Küstenwache sowie deren militärische Unterstützung durch die italienische Marine.

In der italienischen Regierung ist man zufrieden und führt den spürbaren Rückgang auf die neue Linie in der Flüchtlingspolitik zurück. „Unser Ziel ist, den Migrationsfluss zu leiten und nicht einfach hinzunehmen“, sagte Innenminister Marco Minniti gestern auf einer Pressekonferenz. Dass sich die Zahl der Ankömmlinge im Vergleich zum Vorjahr um etwa vier Prozent verringert habe, stimme zuversichtlich. Entscheidend sei, dass Libyen trotz der instabilen Verhältnisse seine Hoheitsgewässer stärker kontrolliere und seine Südgrenze inzwischen besser schütze. Für den 28. August kündigte Minniti ein Innenministertreffen mit seinen Kollegen aus Mali, Niger, Tschad und Libyen an. Über Mali, Niger und Tschad erreichen die meisten Flüchtlinge Libyen, um von dort mit Hilfe von Schleppern nach Italien überzusetzen. Innenminister Minniti will zudem Gemeinden an der libyschen Südgrenze im Kampf gegen Schlepperorganisationen unterstützen.

Die Staatsanwaltschaft Catania ermittelt wegen eines Verdachts gegen drei Mitglieder der Besatzung der Juventa. Das Schiff der deutschen Organisationen Jugend Rettet liegt immer noch konfisziert im Hafen der sizilianischen Stadt Trapani. Der umstrittene und nicht von allen im Kanal von Sizilien aktiven NGOs unterschriebene Verhaltenskodex des italienischen Innenministeriums wirkt inzwischen beinahe wie Makulatur. Denn die Rettungsorganisationen wagen sich kaum noch in die Nähe der libyschen Gewässer vor.Die Schiffe der NGOs hatten zuletzt bis zu 40 Prozent der nach Italien übersetzenden Flüchtlinge vor Libyen aufgegriffen und waren deshalb insbesondere der italienischen Regierung ein Dorn im Auge.

In der aktuellen Entwicklung kommt der libyschen Küstenwache eine Schlüsselrolle zu, die auch die Vorsicht der Rettungsorganisationen erklärt. Vergangene Woche hatte ein Sprecher der Küstenwache die Einrichtung einer Such- und Rettungszone angekündigt und den NGOs mit Konsequenzen gedroht, sollten sie ohne Autorisierung in diese Zone eindringen. Mitglieder der spanischen NGO Proactiva Open Arms berichteten, vergangene Woche von einem Schiff der libyschen Küstenwache beschossen worden zu sein. Von einem ähnlichen Vorfall berichtete Ärzte ohne Grenzen im vergangenen Jahr. Die NGOs warnen nun vor den Folgen der Rückführungen von Flüchtlingen durch die libysche Küstenwache und den unmenschlichen Bedingungen in den libyschen Auffanglagern, in denen Folter und Vergewaltigungen an der Tagesordnung seien. „Die europäischen Staaten und die libyschen Behörden errichten eine gemeinsame Blockade, um zu verhindern, dass sich Personen in Sicherheit bringen“, sagte der italienische Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen, Loris De Filippi.

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