"Die SPD muss mit den Grünen konkurrieren"

Herr Güllner, Ihr Institut sieht die Grünen bundesweit bei 18 Prozent und in Berlin sogar gleichauf mit der SPD

Herr Güllner, Ihr Institut sieht die Grünen bundesweit bei 18 Prozent und in Berlin sogar gleichauf mit der SPD. Wird aus Rot-Grün jetzt Grün-Rot?

Güllner: Wenn man Berlin als Bundesland betrachtet, dann ist es bei der nächsten Wahl im kommenden Jahr durchaus denkbar, dass die Grünen hier stärkste Partei werden und damit den ersten Ministerpräsidenten ihrer Geschichte stellen können.

Ist das ein genereller Trend?

Güllner: Berlin hat insofern keine Sonderstellung, als das grüne Hoch auch in anderen großen Städten schon länger anhält. Bei den Kommunalwahlen in Stuttgart sind die Grünen stärkste Partei geworden. In Köln-Mitte kamen die Grünen zuletzt auf sagenhafte 40 Prozent, während die SPD dort in ihrer einstigen Hochburg auf 20 Prozent absackte. Überall, wo großstädtisches Bildungsbürgertum im Dunstkreis des öffentlichen Dienstes präsent ist, sind die Grünen extrem stark.

Wäre es für die SPD ein Kulturschock, Juniorpartner der Grünen zu sein?

Güllner: Ja, sicher. Wenn man bedenkt, dass die SPD einst eine stolze Volkspartei war und jetzt mit den Grünen konkurrieren muss, dann ist das auch ein Indiz für den Niedergang der Sozialdemokraten.

Woher rührt der Boom für die Grünen?

Güllner: Ihr Erscheinungsbild hat sich grundlegend gewandelt. Früher wuchsen ihre Bärte scheinbar bis in den Keller des Bundestages. Heute kommen sie im dreiteiligen Anzug daher. Das macht sie zu einer akzeptierten und kompetent wirkenden Kraft. Die 18 bis 19 Prozent Wähler-Zustimmung für die Grünen werden gespeist von potenziellen früheren SPD-Wählern.

Und das ist keine vorübergehende Mode-Erscheinung?

Güllner: Sicher sind frustrierte ehemalige SPD-Wähler keine Stammwähler der Grünen. Aber sie sind für sie wählbar geworden. Und je mehr die Sozialdemokraten, aber auch die Union glauben, einem vermeintlich grünen Zeitgeist hinterher hecheln zu müssen, desto mehr machen sie das grüne Original stark. Das geht übrigens auch durch Stimmenenthaltung. In Stuttgart haben nur zwölf von 100 Wahlberechtigten Grün gewählt. Der Rest war zum großen Teil daheim geblieben. Auch das zeugt vom Unmut gegenüber den Volksparteien.

Nach den Umfragen könnten SPD und Grüne im Bund eine Regierung bilden. War es voreilig, den klassischen "kleinen" Koalitionen bereits das Totenglöckchen zu läuten?

Güllner: Das war in der Tat ein voreiliges Urteil vieler Beobachter. Das Fünf-Parteien-System besteht ja praktisch schon seit 1990, als die PDS in den Bundestag kam. Trotzdem sind große Koalitionen oder gar Dreierbündnisse eher die Ausnahme in Bund und Ländern geblieben. Wenn sich SPD und Union auf ihre alten Tugenden besinnen, für die große Mehrheit der arbeitenden Klasse da zu sein, dann können sie eine Renaissance erleben.

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