Zeitgemäße Milde

Meinung · Der Streit um Zensuren ist so alt wie die Bildungsgeschichte. Trotzdem hat Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Peter Frankenberg in ein Wespennest gestoßen, als er jetzt die Notenvergabe an deutschen Schulen rügte. Zu gute Zensuren erteilten die Lehrer, weil sie den Schülern nicht den Weg verbauen wollten, so sein Credo

Der Streit um Zensuren ist so alt wie die Bildungsgeschichte. Trotzdem hat Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Peter Frankenberg in ein Wespennest gestoßen, als er jetzt die Notenvergabe an deutschen Schulen rügte. Zu gute Zensuren erteilten die Lehrer, weil sie den Schülern nicht den Weg verbauen wollten, so sein Credo. Doch auch wenn Lehrerverbände entrüstet von Populismus sprechen: Frankenberg hat Recht. Die Noten sind zu gut. Wer heute Personalverantwortliche in Betrieben oder Lehrende an den Hochschulen nach den Kenntnissen von Schulabgängern fragt, der wird mitunter Gräuliches hören: wenig Grundkenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften, Mängel in der Rechtschreibung, eklatante Lücken beim Allgemeinwissen - und das mitunter trotz guter Zensuren und einem veritablen Abschluss. 1:0 also für Frankenberg? Sind die Lehrer zu milde? Ja, sie sind es - doch sie können nichts dafür. Denn das Problem ist ein gesamtgesellschaftliches: Selbst ein gutes Abitur ist heutzutage keine Garantie auf einen Studienplatz mehr. Und auch mit einer soliden Mittleren Reife kann man kaum noch einen Blumentopf gewinnen, weil vielerorts die Hochschulreife gefordert wird. Wer dies weiß, der versteht, warum viele Lehrer im Zweifel lieber besser bewerten. Hinzu kommt, dass es im Bildungsföderalismus Ziel der Länder ist, möglichst viele Gymnasiasten an die Universitäten zu führen, um im Wettbewerb zu reüssieren. Der daraus resultierende Automatismus ist fatal: Die Lehrer stehen unter Druck, möglichst viele Abiturienten zu generieren, wodurch die Zensuren eher zu gut werden und mehr Schüler an die Hochschulen drängen als vom Fachlichen gerechtfertigt wäre. Sicher: Es ist richtig, die Studentenzahlen erhöhen zu wollen - aber bitte dadurch, dass mehr Schüler zum Studium befähigt werden und nicht durch eine Absenkung der Befähigungsgrenzen. Es kommt jedoch noch etwas hinzu: Spätestens seit den 68ern, als Autorität und Leistungsdruck verpönt waren, hat sich ein bildungspolitischer Konsens weg von der Pflicht und hin zur Kür gebildet. Schüler können heute teils noch immer in Neigungsfächern Abitur machen und ungeliebte Kurse "abwählen". Es liegt auch daran, dass die Noten besser wurden - und die Bildungslücken immer größer. Wer nun aber folgert, es genüge, einfach härter zu bewerten, der irrt. Solange ehemals anerkannte Bildungsabschlüsse wie die Mittlere Reife oder ein guter Hauptschulabschluss entwertet sind und man für eine Banklehre ein Abitur braucht, werden viele Lehrer eher zu gut zensieren. Und sie haben Recht damit.

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