Brexit-Abstimmung Und nun?

London · Brexit-Deal wird von einer überwältigenden Mehrheit der britischen Abgeordneten abgelehnt. Premierministerin Theresa May muss sich Misstrauensvotum stellen.

Ein Anti-Brexit-Demonstrant weint auf dem Parlamentsplatz. Das britische Parlament hat das Brexit-Abkommen abgelehnt.

Ein Anti-Brexit-Demonstrant weint auf dem Parlamentsplatz. Das britische Parlament hat das Brexit-Abkommen abgelehnt.

Foto: dpa/Frank Augstein

Als der Sprecher an diesem historischen Abend das Ergebnis verkündete, ging ein erstauntes Raunen durch die Reihen des ehrwürdigen Parlaments in Westminster. Es wirkte beinahe so, als überrasche die Abgeordneten ihr eigener überwältigender Widerstand. Dabei handelte es sich um ein Scheitern der Regierung mit Ansage. Seit Wochen wettern parteiübergreifend Abgeordnete gegen den zwischen London und Brüssel ausgehandelten Deal. Sie hatten nicht geblufft: 432 Parlamentarier stimmten am Dienstagabend gegen das Austrittsabkommen von Premierministerin Theresa May. Nur 202 Abgeordnete sprachen sich für das Austrittsabkommen aus.

Es war eine krachende Niederlage für die Regierung. Doch als es nicht noch schlimmer hätte kommen können für May, kündigte Labour-Oppositionschef Jeremy Corbyn nur Minuten später einen Misstrauensantrag gegen die Regierung an. May, die erst im Dezember einen Putschversuch ihrer rebellischen Hinterbänkler abgewehrt hatte, zeigte sich in gewohnter Unbeugsamkeit bereit, sich bereits am Mittwoch dem Votum der Abgeordneten zu stellen. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Regierungschefin die Abstimmung verliert, zu sehr ist die Opposition auf Stimmen aus den konservativen Reihen oder der erzkonservativen nordirischen Unionisten-Partei DUP angewiesen. Und auch wenn May bereits vor Monaten von Parteikollegen als „erledigt“ bezeichnet wurde, das Risiko, dass am Ende Corbyn in die Downing Street einziehen könnte, will keiner der May-Kritiker eingehen. Trotzdem dürfte der Labour-Chef, lebenslanger EU-Skeptiker, bei einem Sieg der Premierministerin unter großen Druck seiner eigenen Partei geraten, sich hinter die Forderung nach einem erneuten Referendum zu stellen.

Den ganzen Tag über hatten die Abgeordneten noch einmal über den Deal debattiert. Den Auftakt machte Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox, der bereits am Mittag andeutete, dass es nach einer Niederlage zu einer zweiten Abstimmung im Parlament kommen könnte. Der Konservative appellierte eindringlich und mit kraftvoller Baritonstimme an das Unterhaus: „Was machen Sie? Sie sind keine Kinder auf dem Spielplatz. Sie sind Gesetzgeber, das ist Ihr Job. Wir spielen mit dem Leben der Menschen."

Während die Europafreunde den Deal ablehnen, weil sie auf ein zweites Referendum und auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU hoffen, stören sich die Brextremisten in der konservativen Partei vor allem am sogenannten Backstop. Es handelt sich um eine Garantie für eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, die sich mittlerweile zur Glaubensfrage auf der Insel entwickelt hat. Glühende EU-Skeptiker fürchten, dass Großbritannien durch die im Austrittsvertrag vorgesehene Notfalllösung auf Dauer an die Gemeinschaft gekettet bleibe. Viele der Hardliner fordern mittlerweile eine Scheidung ohne jegliches Abkommen, was unter anderem der Großteil der Wirtschaft als Katastrophen-Szenario fürchtet, mit neuen Zölle und Kontrollen an den Grenzen.

Der Streit bei den Konservativen, die sich seit Monaten auf offener Bühne selbst zerfleischen, dürfte sich nach der Niederlage am Dienstagabend nun weiter zuspitzen. In nur 72 Tagen treten die Briten offiziell aus der EU aus. Die Uhr tickt, während sich das Land weiterhin uneins über den Austritt zeigt. Sollten die Abgeordneten schlichtweg nichts unternehmen in den nächsten Wochen, scheidet das Königreich am 29. März 2019 mit großem Chaos aus der Gemeinschaft aus. Diese Option lehnt zwar die Mehrheit des Parlaments ab, doch ausschließen wollen Beobachter einen No-Deal-Brexit nicht. Dass die Briten den Brexit dagegen abblasen, ist angesichts der politischen Realitäten so gut wie ausgeschlossen.

Während die einen drinnen debattierten, protestierten draußen die anderen. Die anderen waren das Volk oder zumindest ein Teil davon. Den ganzen Tag über spielten sich nie dagewesene Szenen vor dem Westminster-Palast ab. Hunderte Brexit-Gegner schwenkten EU-Flaggen und den Union Jack, schrien in schöner Regelmäßigkeit „Stop Brexit“ und pfiffen in ihre Trillerpfeifen – vereint im Wunsch, vereint zu bleiben. Etliche Brexit-Befürworter streckten dagegen Poster mit „Brexit bedeutet Brexit“ oder „Glaubt an Großbritannien“ in die Höhe, mit denen sie die Politiker aufforderten, das Referendumsergebnis zu respektieren. Sie trommelten für „Freiheit“, „Demokratie“ und dafür, dass die Politik doch bitte „unsere Souveränität“ retten möge.

Etliche klagten über den Deal, der ihrer Meinung nach kein „echter Brexit“ sei. Am Rande predigte mit Peter Simpson sogar ein methodistischer Geistlicher aus der Grafschaft Buckinghamshire. Er berief sich auf das Buch Genesis, Kapitel 10. In dieser Welt wäre auch Jesus ein Brexiter. „Großbritannien braucht den Gospel von Christus, nicht die EU“, sprach er zu einem Herren, der seinerseits ohne ersichtlichen Grund in einem Darth-Vader-Kostüm steckte. An ihnen vorbei fuhren Kleinlaster, auf die Anhänger eines zweiten Referendums Leuchtreklamen mit proeuropäischen Botschaften wie „Es ist unsere Zukunft, lasst uns entscheiden“ befestigt hatten. Sie wechselten sich ab mit dem Brexit-Bus, der je nach Meinung der Umstehenden entweder ausgebuht oder bejubelt wurde. Es herrschte wahre Karnevals-Stimmung.

Doch Theresa May dürfte alles andere als zum Lachen zumute sein. Mit dem verlorenen Votum verlängert sich der Streit um den Brexit nun weiter. Und dabei handelt es sich bei der Abstimmung über den Deal ohnehin lediglich um das erste Kapitel im unendlichen Brexit-Drama. Selbst wenn das Parlament in naher Zukunft ein Abkommen billigen sollte, bleiben die künftigen Beziehungen zur EU weiter ungeklärt.

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