Buchkritik: „Harro & Libertas“ von Norman Ohler Eine bessere Geschichte

Zweibrücken · Norman Ohler zeigt in seinem packenden neuen Buch, dass Widerstand gegen den Nationalsozialismus möglich war, widerspricht damit auch seinem verstorbenen Großvater – und appelliert an uns Lebende.

Norman Ohler ist in Zweibrücken geboren und aufgewachsen. Heute lebt er in Berlin, im Bild mit übersetzten Ausgaben seines Bestsellers „Der totale Rausch“. Dieser Erfolg verschafft auch seinem neuen literarisch ambitionierten Sachbuch große Aufmerksamkeit: Nach der „Welt“ hat selbst die größte Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ „Harro & Libertas“ (fast) eine ganze Seite gewidmet.

Norman Ohler ist in Zweibrücken geboren und aufgewachsen. Heute lebt er in Berlin, im Bild mit übersetzten Ausgaben seines Bestsellers „Der totale Rausch“. Dieser Erfolg verschafft auch seinem neuen literarisch ambitionierten Sachbuch große Aufmerksamkeit: Nach der „Welt“ hat selbst die größte Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ „Harro & Libertas“ (fast) eine ganze Seite gewidmet.

Foto: © Markus Tedeskino

Norman Ohlers neues Buch beginnt für Zweibrücker Leser vertraut: „Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, saß ich im Garten des Hauses meiner Großeltern, das im Klingeltal lag, am Rande einer kleinen Stadt im Südwesten Deutschlands, nahe der Grenze zum Elsass.“

Doch mit dem Vertrauten ist es schnell vorbei in „Harro & Libertas“. „Eine Geschichte von Liebe und Widerstand“ (so der Untertitel) erzählt Ohler darin. Und diese Geschichte hat es in sich. Denn sie ist eine wahre Geschichte – die erst jahrzehntelang verfälscht erzählt wurde und dann weitgehend in Vergessenheit geriet. Und: Ohlers Geschichte räumt mit der Legende auf, Widerstand gegen den Nationalsozialismus sei nicht möglich gewesen (und abgesehen von der Weißen Rose sowie den Verschwörern um Graf Stauffenberg wenig Vorbildliches zu finden).

In der Garten-Szene erzählt der Großvater zur Erschütterung des jungen Norman, dass er als Reichsbahner von den Deportationszügen in Konzentrationslager wusste – und aus Angst vor der SS nichts gegen das von ihm erschüttert erkannte Unrecht tat. Die Garten-Szene ist zwar durchaus liebevoll beschreiben. Was Norman Ohler in „Harro & Libertas“ aber dann nach intensiven Literatur- und Archiv-Studien schildert, sind eindrucksvolle Beispiele vieler Menschen, die anders als sein Großvater den Mut hatten, Widerstand zu leisten. Und dafür nicht nur mit dem Leben bezahlten, sondern jahrzehntelang mit ihrem Ruf: In der BRD wurden sie als Kommunisten weiter als Staatsfeinde angesehen, obwohl sie überwiegend keine Kommunisten waren – die von den Nazis gestrickte Legende, die Widerständler um Arvid Harnack, Harro Schulze-Boysen (und dessen Frau Libertas) seien kommunistische Landesverräter gewesen, wurde einfach fortgeschrieben. Wobei kaum jemand störte, dass dies mit entscheidender Hilfe des NS-Anklägers geschah, der schon die Todesurteile für die meisten dieser Widerständler erwirkt hatte. Unter dem Namen „Rote Kapelle“ wurde diese linksbürgerliche Widerstandsgruppe nur bekannt, weil die NS-Ermittler sie so getauft hatten – was die DDR gerne übernahm, weil ihr ein „kommunistischer“ Widerstand gegen die Nazis gut ins Geschichtsbild passte.

Das Geschichtsbild, das Norman Ohler nun zeichnet, ist wesentlich sympathischer – es orientiert sich nämlich strikt an den Fakten statt an Propaganda. Trotzdem gelingt Ohler das Kunststück, diese Widerstands-Geschichte für heutige Ziele zu instrumentalisieren: Denn der Schriftsteller und Journalist stellt die Fakten so dar, dass man aus ihnen Botschaften auch für die Gegenwart herauslesen kann. Vorangestellt hat Ohler seinem „Für die Kinder“ gewidmeten Buch ein Zitat des Philosophen Walter Benjamin: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen‚ wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Und wer „Harro & Libertas“ aufmerksam liest, stößt auf einiges Vergangene, was leider wieder gefährlich gegenwärtig ist: Ohler entführt in eine Zeit von „Bankenkollaps“ und unbezahlbaren Mieten, „der drohende Sturz in den Abgrund ständig zu spüren“, „die Lage ist polarisiert, die Parteien haben abgewirtschaftet und repräsentieren das Volk nicht mehr“, Europa ist in der Krise – so habe Harro die Lage 1932 erlebt, als er auch „mit rechten Positionen“ liebäugelte, bevor er später eine sozialistische Wirtschafts- und eine freiheitliche Gesellschaftsordnung angestrebt hat. Und als Hitler 1933 die Macht erhält, „kommen die Listen zum Einsatz, die die Nazis vorbereitet haben, darauf stehen Sozialdemokraten, Kommunisten, Andersdenkende“. Ohler beschreibt auch, wie innerhalb weniger Jahre einst aufrechte Bürgerliche sich unter dem Eindruck der Nazi-Propaganda selbst in (antijüdische) Hetzer verwandeln und legt nahe, dass „mit Rechten reden“ (wie man das heute nennt und wie Harro das noch bis in die NS-Jahre hinein versuchen wollte) irgendwann keine Option mehr sein sollte.

Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack sind die bekanntesten Namen der „Roten Kapelle“. Sie nutzten ihre Positionen im Reichsluftfahrt- und im Wirtschaftsministerium für den Widerstand: Unter anderem versorgten sie die Alliierten (insbesondere die Sowjetunion, die daraus aber kaum etwas machte und deren dilettantische Agententätigkeit die Gruppe 1942 auffliegen ließ) mit kriegswichtigen Informationen. Dass Ohler sein Buch nicht „Harro & Arvid“, sondern „Harro & Libertas“ nennt, liegt aber offensichtlich nicht nur daran, dass er so auch die Liebesgeschichte von Harro und Libertas Schulze-Boysen (geb. Haas-Heye) erzählen kann: Eine Besonderheit dieser Widerstandsgruppe ist, dass 40 Prozent ihrer Mitstreiter Frauen waren. Zudem ist Libertas für Ohler auch ein Beispiel dafür, dass man nicht „nach der perfekten Person“ suchen müsse: „Sie war Mitläuferin, erst im System, von dessen Ausgrenzungspolitik sie profitierte, dann im Widerstand. Doch sie hat ihre zunächst affirmative Meinung über das Regime geändert und ist aktiv geworden, hat bewiesen, dass eine andere Haltung möglich ist, jedem möglich gewesen wäre.“

Manchmal liest sich „Harro & Libertas“ auch wie ein Handbuch für Widerstandsarbeit, bis hin zum Verhalten in Verhören. Ohler preist die Vorzüge der lockeren Netzwerkarbeit, erwähnt aber auch deren Nachteile. Er lobt revolutionäre Geduld. Und hebt immer wieder hervor, wie Liebe und wie Freundschaften eine fruchtbare Basis für politischen Widerstand bilden. So, wie der amerikanische Poet Walt Whitman gleichzeitig Hymnen auf das Individuum wie auf die Masse dichtete, um für freiheitliche und dennoch egalitäre Demokratie zu werben, so koppelt auch Ohler in seiner Beschreibung der „Roten Kapelle“ das pralle Leben mit der Gesellschaft. Der 49-Jährige schreibt „eine Geschichte junger Leute, die vor allem eines wollten: leben – und sich lieben, selbst wenn die Zeit, in der sie in ihrer Blüte standen, auf Tod gepolt war“, und über Schulze-Boysen: „Eigenarten anerkennen, Verschiedenheiten begrüßen: Das bestimmt Harros politische Ziele.“ Dass Ohlers Buch in der Schrift „Whitman“ gesetzt ist, ist ein liebevolles Detail in diesem liebevollen Werk.

 Norman Ohler, „Harro & Libertas“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 492 Seiten, 24 Euro.

Norman Ohler, „Harro & Libertas“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 492 Seiten, 24 Euro.

Foto: Verlag Kiepenheuer & Witsch/Kiepenheuer & Witsch

Obwohl Ohler in „Harro & Libertas hervorhebt: „Es handelt sich nicht um einen fiktionalen Text.“ (S. 19), und fast alle Zitate und einiges mehr mit 488 (!) Fußnoten wissenschaftlich-korrekt belegt, bleibt man dutzendfach bei kolportagehaften Szenen hängen, die man in Nach-Relotius-Zeiten mit großen Zweifeln liest. Das geht gleich am Anfang los, als Norman Ohler sich 37 Jahre später angeblich genau an die Szenerie in Opas Garten erinnert: „Die Sonne schien durch die Blätter der Apfelbäume auf unseren Tisch und zeichnete ein Tarnmuster aus Licht und Schatten auf das gelb grundierte Spielbrett.“ Eine derart detaillierte Lichtspiel-Beschreibung schafft nicht Glaubwürdigkeit, sondern weckt (sicher unbegründete) Zweifel an der Wahrheit der nächsten, wichtigen Sätze. Ein weiteres Beispiel: „Harro blinzelt gegen das Licht einer Straßenlaterne an. In der Luft hängt ein Duft von Frühling, der ihm wie Hohn vorkommt. Neben ihm stolpert Henry.“ Wer dies nicht als literarisch-fiktives Element erkennt, wird misstrauisch – und hält auch Anderes für fiktiv: Als bei Libertas in der Kulturfilm-Zentrale regelmäßig Fotos von Juden-Morden durch Soldaten auf dem Tisch landen (und Ohler hier keine Fußnote setzt), klingt dies so unwahrscheinlich, dass man es kaum glaubt – obwohl es historisch belegt ist. Da wäre ein strengeres Lektorat hilfreich gewesen. Zumal Ohler in seinem Schlusssatz selbst hervorhebt, dass diese Widerstands-Geschichte „so umstritten ist wie wenige Geschichten sonst“ – dann jedoch ist es kontraproduktiv, Gegnern Munition zu liefern, nur um noch ein paar mehr schön lesbare, aber völlig verzichtbare Passagen im Buch zu haben.

Zumal Ohlers Sprache eigentlich eine große Stärke dieses Buches ist: Er stellt die Geschichte so lebendig, so packend dar, dass er – flankiert von seinem Ruhm als „High Hitler“-Autor – sicher viele Leser erreichen wird. Was sehr verdienstvoll ist: Denn die mit über 150 Mitstreitern größte Widerstandsgruppe gegen die NS-Diktatur hat mehr Aufmerksamkeit verdient. Welch Ironie der Geschichte, dass dabei ausgerechnet Hitler hilft.

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