Gretchenfrage: Wie viel Kunst bleibt hängen?

Frankfurt · 80 Kunstwerke aus der Londoner Tate, dem Centre Pompidou Paris und Frankfurts MMK kreiern ein „imaginäres Museum“. Es mündet in ein interaktives Projekt.

Im Treppenaufgang hängt ein Zitat aus Ray Bradburys Dystopie "Fahrenheit 451": "Stuff your eyes with wonder", was sich mit "Staunt euch die Augen aus dem Kopf" übersetzen ließe. Was dann zu sehen ist, gibt zu solcher Vollmundigkeit wenig Anlass. Ist aber anders gemeint: Die Idee zu dem "Imaginären Museum", das das Frankfurter Museum für Moderne Kunst in seiner neuen Dependance MMK2 im mitten im Bankenviertel gelegenen Taunus Turm aufgebaut hat, geht auf Bradburys legendären (und von Truffaut verfilmten) Zukunftsroman zurück. Er schildert eine Diktatur, in der Bücher verboten sind und die Feuerwehr sie einsammelt und verbrennt. Den beraubten "Büchermenschen" bleibt nur, sie zu memorieren.

Die Auslöschung der im MMK2 gezeigten 80 Schlüsselwerke der modernen Kunst - ausgewählt im Rahmen einer Ausstellungskooperation aus Beständen des MMK, des Pariser Centre Pompidou und der Londoner Tate - wird in Frankfurt dann im September simuliert, zur Finissage der Schau. Wie in "Fahrenheit 451" werden im TaunusTurm zuletzt alle Werke abgehängt. An ihrer Stelle werden "Bildermenschen" - Besucher der Ausstellung - ihre Erinnerungen an die jeweiligen Werke mitteilen. Weil insoweit ihr sicheres Verschwinden konzeptionell ein Teil der Ausstellung ist, bietet die Frankfurter Schau ein Stück moderner Wahrnehmungskunde: Unter jedem Werk hängt ein Block mit einer kleinen Werkbeschreibung, von dem man sich als Gedächtnisstütze ein Blatt abreißen kann. Was und wieviel von dem Gesehenen bleibt hängen?, ist mithin die uns Besuchern aufgegebene Frage. Museumsdidaktisch ist das in diesen Zeiten, wo Kunst im Überfluss geboten und oft im Schnelldurchlauf konsumiert und abgehakt wird, nicht ohne Hintersinn.

Eine Fotografie Paul Almásys aus dem Pariser Louvre aus dem Jahr 1942 taugt als historische Versinnbildlichung des Szenarios: Sie zeigt einen aus Angst vor einer Zerstörung oder Plünderung durch die Nazis evakuierten Louvre-Saal: Mit Kreide hat das Louvre-Personal in die leeren Rahmen die Namen der entfernten Gemälde geschrieben, um die Säle wieder originalgetreu einrichten zu können. Dem um Werke von Rachel Whiteread und Allan McCollum ergänzten Ausstellungsprolog folgen neun Stationen, in einer etwas bemühten Reverenz an Bradburys Durchspielen literarischen Verschwindens sind sie nach bekannten Buchtiteln benannt. Schon hier zeigen sich Grenzen des Ausstellungskonzepts, wirken Auswahl und Anordnung der 80 Werke doch recht beliebig. Dennoch: Entdeckungen und Wiederbegegnungen lassen sich zuhauf machen. Gleich zu Beginn Reg Butlers "Musée Imaginaire", ein Schaukasten mit 39 Bronze- und Holzskulpturen, der (ebenso wie der Titel der Schau) auf André Malraux ' Trilogie "Musée imaginaire de la sculpture mondiale" anspielt. Malraux' Studie von 1951 kreiste um die (zuvor schon von Walter Benjamin aufgeworfene) Frage, inwieweit fotografische Reproduktionen die Wahrnehmung und Funktion der Kunst von Grund auf verändert (und sie jederzeit verfügbar macht).

In Erinnerung bleibt einem außer Butler etwa Marcel Duchamps wunderbares Miniatur-Archiv "Boîte" aus 68 Objekten, das wie eine Matrjoschka eine Schau in der (MMK-)Schau ist. Das Frankfurter Potpourri reicht von Josef Albers , Giorgio Morani und Lucio Fontana über Andy Warhol , Marcel Broodthaers oder Frank Stella bis zu Isa Genzken, On Kawara, Roman Opalka, Martin Kippenberger oder Louise Bourgeois und repräsentiert damit markante Positionen der 50er bis 90er. Als man den TaunusTurm verlassen hat, schieben sich Martin Parrs melancholische Memorabilia (Fotos aus Brighton von 1983-86) vor dem inneren Auge ins Straßenbild. Im Wagen läuft im Kopf Fischli/Weiss' Kettenreaktionsvideo "Der Lauf der Dinge" wieder ab. Und, und, und . . .

Bis 4. September im MMK 2 (TaunusTower); Finissage am 10. September; Infos/Rahmenprogramm: mmk-frankfurt.de

 Daniel Spoerris Installation „La douche“ von 1961. Foto: Axel Schneider, © ADAGP/ Centre Pompidou 2016

Daniel Spoerris Installation „La douche“ von 1961. Foto: Axel Schneider, © ADAGP/ Centre Pompidou 2016

Foto: Axel Schneider, © ADAGP/ Centre Pompidou 2016
 Giorgio Morandis zeitlos schönes „Still Life“ aus dem Jahr 1946. Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Giorgio Morandis zeitlos schönes „Still Life“ aus dem Jahr 1946. Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Ab 21.Oktober bis 27. März 2017 im Metzer Centre Pompidou.

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