Empörung mit Hand und Fuß

München · In der deutschen Armutsdebatte, wo Polemik an der Tagesordnung ist, wird Georg Cremers Buch, so ist zu hoffen, breites Gehör finden. Weil es mit Vorurteilen aufräumt und von viel Sachverstand und Augenmaß zeugt. Cremer ist Generalsekretär des größten deutschen Sozialverbandes, der Caritas. Er weiß also, wovon er spricht. Und hält aus gutem Grund nichts davon, wenn Opposition, Medien und Verbände jede neue Armutsstatistik mit „ritueller, aber folgenloser Empörung“ quittieren und reflexhaft Skandal schreien. Das heißt nicht, dass Cremer bagatellisiert – ganz im Gegenteil.

Gleich im Eingangskapitel räumt Cremer mit vielen statistischen Unschärfen gründlich auf. So mit der fälschlichen Gleichsetzung von Armut und Armutsrisiko. 15,4 Prozent der Bevölkerung in Deutschland verfügen über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, das augenblicklich pro Erwachsenem bei 917 Euro liegt. Diese Basiszahlen gelten als unstrittig. Nicht aber, was sie aussagen. Lebt damit gut jeder Siebte in Deutschland also in Armut ? Viele Auszubildende oder Studenten etwa würden sich nicht als arm bezeichnen. Wären dies aber, sofern man nicht, wofür Cremer nachdrücklich plädiert, einen feinen, entscheidenden Unterschied macht: Wer weniger als 917 Euro hat, hat ein Armutsrisiko.

Cremer zielt nicht darauf, die bestehende Armut zu verharmlosen. Er erinnert (in Anlehnung an den bekannten Armutsforscher Amartya Sen) daran, dass Armut "einen Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen" bedeutet, weshalb bereits seit den Tagen des klassischen Nationalökonomen Adam Smith (1723-1790) Konsens darüber besteht, dass zu den lebenswichtigen Gütern auch jene zu gehören haben, die - wie Smith es ausdrückte - essenziell sind, um soziale "Beschämung zu vermeiden". Der Grund, weshalb der Europäische Rat 1985 Armut so definierte, dass die Betroffenen "über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar" sind. Facettenreich arbeitet der Caritas-Generalsekretär auf, dass wir genauer hinsehen müssen, als es die schwarzweißhafte, oft unzureichend differenzierende Welt von Politik und Medien tut. In Griechenland etwa, Pleitestaat Europas par excellence, sanken die Einkommen von 2009 bis 2014 um 37 Prozent, das Armutsrisiko aber blieb konstant. Nicht realiter, wohl aber statistisch, da analog zu den Einkommen auch der finanzielle Schwellenwert zur Armut sank.

In Deutschland hat das Armutsrisiko seit der Wiedervereinigung stark zugenommen, wobei Cremer als Hauptgrund hierfür die zunehmende Lohnungleichheit (und daneben die Steuerentlastung für mittlere und obere Einkommen unter der rot-grünen Koalition) ausmacht. Erstaunlich ist Cremers Befund, dass seit der Einführung von Hartz IV 2005 das Pauperisierungsrisiko nur noch moderat anstieg. Die viel gescholtenen Hartz IV-Gesetze seien besser als ihr Ruf, folgert er: Die zuvor rasant gestiegene Arbeitslosigkeit sei seither deutlich gemildert worden - allerdings ohne positive Effekte für die Armutsgefährdung .

Als Hauptrisikogruppen macht er neben Langzeitarbeitslosen die 1,6 Millionen Alleinerziehenden (in aller Regel Frauen und deren 2,3 Millionen Kinder) aus, ferner Niedrig-Rentenbezieher, dazu das Heer der Billiglöhner, die trotz Arbeit am Existenzminimum nagen sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Deren Armutsrisiko lag 2014 bei 26,7 Prozent (im Vergleich zu 12,5 Prozent bei Bürgern ohne).

Cremers faktenreiche, unpolemische Bestandsaufnahme deckt viele Grundfragen der aktuellen Armutsdebatten ab. Zerfällt die Mittelschicht? Nein, wie er belegt. Wächst die Altersarmut? Nicht signifikant. Macht Armut krank? Ohne Wenn und Aber ja. Aufgearbeitet wird sowohl das Ost-West-Gefälle (kaufkraftbereinigt ist das Armutsrisiko im Osten drei Prozentpunkte höher) als auch das alarmierende Stadt-Land-Gefälle: Durch den eklatanten Niedergang sozialen Wohnungsbaus fehlt es in Ballungsgebieten an erschwinglichem Wohnraum, was direkt durchschlägt und dort die Verarmung schürt.

Ohne flankierende staatliche Sozialleistungen wäre fast jeder vierte Bundesbürger armutsgefährdet. Die pauschale Behauptung, das Sozialsystem werde kaputtgespart, nennt Cremer "empiriefreie Empörung". Doch auch trotz bestehender sozialer Netze gebe es eine verdeckte soziale Armut , konzediert er: Etwa ein Drittel der Leistungsberechtigten verzichte auf ergänzende Hilfen. Oft aus Scham oder Unwissen. Auch werde die Grundsicherung "nicht fair berechnet". Täte man es, wie von Sozialverbänden lange gefordert, würden mehr Teilzeitler und Niedriglöhner zu Aufstockern und damit zu Hartz IV-Berechtigten. Cremer verdeutlicht die Paradoxie dahinter: Obwohl Hilfsbedürftige in dem Fall mehr Zuwendungen erhielten, unterbleibe dies aus Angst vor einem Medienaufschrei ob der Folgen für die Armutsstatistik.

Eingedenk dessen, dass es 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren gibt, ist klar: Bildung bleibt der sicherste Weg aus der Armutsfalle. Cremer fordert vehement mehr "Befähigungsgerechtigkeit". Und mehr Präventivmaßnahmen um "vererbte Armut " zu verhindern. Finanzieren ließe sich dies durch höhere Spitzensteuersätze und Erbschaftssteuererlöse.

Georg Cremer: Armut in Deutschland. C.H. Beck, 271 Seiten, 16,95 Euro

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